Eine Geschichte der Zitrone

Autor*in
Cotterill, Jo
ISBN
978-3-551-56036-0
Übersetzer*in
Püschel, Nadine
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
254
Verlag
Königskinder
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2016
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,99 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Teaser

Calypso lebt mit ihrem Vater allein, seit ihre Mutter vor sechs Jahren an Krebs gestorben ist. Seither hat die Elfjährige weitgehend die „Hausfrauenpflichten“ übernommen, denn ihr Vater arbeitet intensiv an einem Standardwerk über die Geschichte der Zitrone. Bücher sind ihre einzige Gesellschaft. Durch Mae, eine Klassenkameradin, erfährt sie, wie schön es ist, eine Freundin zu haben. Nach Jahren stellt sich nun heraus, dass die „wissenschaftliche Arbeit“ des Vaters eine seelische Erkrankung ist.

Beurteilungstext

Ein schwieriges Buch. Auf die Lektüre zurückblickend, mögen es Erwachsene als emotional sehr anrührend empfinden. Sympathie und Mitleid mit Calypso überwiegen. Und die fröhliche Mae, die häufig in Tränen ausbricht, mal aus Freude, mal aus Trauer, und ihre nette Familie erobern die Herzen der Lesenden. Ob Kinder und Jugendliche das Buch, das der Verlag schon ab 12 Jahren empfiehlt, bis zum Ende lesen, ist fraglich. Sie dürften die erste Hälfte des Romans eher als langweilig empfinden. Weder der Buchtitel noch der Klappentext verweisen auf das eigentliche Anliegen der Geschichte: Calypso muss, wie im wirklichen Leben viele Kinder, die Verantwortung für einen seelisch kranken Elternteil übernehmen und wird damit um ihre unbeschwerte Kindheit gebracht. So widmet die Autorin die ersten 120 Seiten des Buches dem Alltag von Calypso. Sie lässt das Mädchen selbst erzählen. Der Vater hat sich nach dem Tod seiner Frau völlig in sich selbst, in seine Bibliothek und in das Verfassen seines Werks über „Die Zitrone“ zurückgezogen. Dabei lässt er Haus und Garten verwahrlosen, vergisst Essen oder passende Kleidung für das heranwachsende Mädchen zu kaufen. Gefühlsäußerungen, gar Zärtlichkeiten, sind strikt verpönt. Dies soll die „innere Stärke“ und die Unabhängigkeit von anderen Menschen entwickeln. Umgekehrt versorgt Calypso ihn mit viel Tee und „Speisen“, sofern sich im Kühlschrank etwas findet. Die Elfjährige lebt in Gesellschaft ihrer Bücher, denn sie besitzt eine eigene Bibliothek. Auch in der Schule hält sie sich von anderen Kindern fern und gilt als Außenseiterin. Mae, eine neue Mitschülerin, ist ebenfalls eine begeisterte Leseratte. Sie bemüht sich um Calypsos Freundschaft, die diese nach längerem Zögern annimmt. Jetzt verkehrt sie bei Mae in einer intakten Familie und staunt nur so über deren Umgang miteinander. Hier geht es laut und emotional zu. Die Mutter kocht leckere Mahlzeiten, der Vater werkelt mit den Kindern im Garten. Man streitet und versöhnt sich wieder in schnellem Wechsel, alles Dinge, die Calypso nicht kennt. Die beiden Freundinnen wollen Schriftstellerinnen und berühmt werden und fangen sofort mit dem Erfinden von Geschichten an. Sie diskutieren und tauschen sich aus über die unzähligen Bücher, die sie bereits gelesen haben.
Erst nach längerer Zeit der Freundschaft erfährt Mae, dass Calypsos Mutter schon seit Jahren nicht mehr lebt. Als sie schließlich zu Calypso nach Hause darf, um deren Bibliothek und die Bibliothek ihrer Mutter zu sehen, kommt es zum Eklat: Die Bücherregale der Mutter sind leergeräumt. Stattdessen sind sie gefüllt mit Zitronen, mit verfaulten, verschimmelten, getrockneten und auch frischen Zitronen. Der Vater hat die Bücher alle hinter den Schuppen im Garten geworfen, wo sie weitgehend zerstört sind. Erst jetzt nimmt die Geschichte richtig Fahrt auf und wird sehr spannend. Der Vater geht in Therapie und Calypso besucht Angebote des Sozialamtes für „Kleine Helden“, wie die Kinder genannt werden, die Verantwortung für ihre Eltern und oft auch für die Geschwister übernehmen müssen. Calypso ist verstört darüber, wie ihr Vater sich verändert, der plötzlich den Haushalt übernimmt. Sie erfährt aber, dass die Gesundung des Vaters lange dauern und immer wieder Krisen beinhalten wird. In ihrem Gesprächskreis merkt sie, dass sie anders ist als die Leidensgenossinnen. Diese lesen keine Bücher, schwänzen die Schule, spielen Videospiele und benützen eine rüpelhafte Sprache. Soll sie sich nun auch ändern, fragt sich Calypso. Gut, dass sie mit Mae darüber reden, ja philosophieren kann, was wohl „normal“ ist und was „innere Stärke“ bedeutet. Sie kommt zu der Erkenntnis, dass die „innere Stärke“ ein Geschenk ist. Und sie will die „innere Stärke“ ihres Vaters sein und entscheidet sich, auch die schlimmsten Krisen mit ihm durchzustehen. Ihre Sozialarbeiterin Antonia ist ohnehin nie zu erreichen. Aber Mae und ihre Familie sind zur Stelle, wenn es dringend ist. So bahnt sich mit einem rührend schönen Schluss doch ein gutes Ende an. Man freut sich gerne mit Vater und Tochter. Dennoch beschleicht einen ein leichter Groll: Warum erfährt man erst nach 120 Seiten, wie schlecht es um Calypsos Vater steht? Ganz am Anfang lässt die Autorin wissen, dass er für wissenschaftliche Experimente im Gewächshaus eine ganze Zitronen-Plantage angelegt hat, die offensichtlich reichlich Früchte getragen hat. Wie hat er die gepflegt, er, der Essen, Trinken und die eigene Tochter vergaß? Die elfjährige Ich-Erzählerin benutzt eine klare und gepflegte Sprache. Doch auch wenn sie sehr belesen und sprachbegabt ist, so benutzt sie viele Formulierungen und Gedanken, die man eher bei Erwachsenen vermuten würde. Ärgerlich, besonders für junge Leserinnen, ist, dass die beiden bibliophilen Freundinnen sich häufig über zahllose Buchtitel und deren Helden und Heldinnen austauschen, die im deutschsprachigen Raum nicht zu den gängigen „Klassikern“ zählen. Man kann mit diesen Diskussionen überhaupt nichts anfangen. Man fragt sich am Schluss auch, was nun das eigentliche Ziel dieses Buches ist: Will es über „die innere Stärke“ aufklären, soll es über das Problem der „alleinerziehenden“ Kinder informieren oder ganz einfach das Hohelied des Bücherlesens oder der Freundschaft singen?

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von gem; Landesstelle: Baden-Württemberg.
Veröffentlicht am 19.01.2017

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