Alle meine Leben

Autor*in
Wylie, Sarah
ISBN
978-3-570-15952-1
Übersetzer*in
Ernst, Alexandra
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
315
Verlag
Gattung
Ort
München
Jahr
2014
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,99 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

„Eine größere Liebe kann niemand haben als die, sein Leben hinzugeben (15,13)". Stimmt man diesem Vers des Johannesevangeliums als liebender Leser vor der Lektüre dieses verblüffend anderen Romans ohne Einschränkungen zu, so gewinnt man im Laufe des Romans einen ganz neuen Blick darauf. In einem unfassbaren Ringen mit sich und den geliebten Menschen wird die Protagonistin zu einer neuer Erkenntnis geführt: „Manchmal ist das Größte, was man tun kann, für jemanden zu leben.“

Beurteilungstext

Die Geschichte, die die in Kanada lebende Sarah Wylie in ihrem ersten Roman erzählt, lässt einen als Leser nicht unberührt. Das liegt aber nicht daran, dass die Krebskrankheit eines Teenagers behandelt wird und über dieses affektiv besetzte Thema beim Leser Emotionen geweckt werden. In diesem Roman wird nicht die Perspektive der Erkrankten aufgegriffen, sondern die derjenigen, die auch mit der Krankheit und insbesondere mit der eigenen Hilflosigkeit umzugehen haben – und darin besteht eine große Aufgabe, die nicht selten unterschätzt wird: „Niemand redet je über die andere Seite der Medaille. Davon, dass wir auch sie brauchen. Stattdessen müssen wir uns hinstellen und erwachsen werden und den Dingen ins Gesicht schauen und stark sein für Jena, während sie sich hinlegen muss und schwach wird, während sie langsam aufgefressen wird“ (131).

Und die Bewältigung dieser Aufgabe versucht jede Figur im Roman auf je eigene Weise. Im Mittelpunkt steht Dani, ein 16-jähriges Mädchen, dessen Zwillingsschwester Jena an Leukämie erkrankt ist. Aber nicht einmal Dani als Zwillingsschwester kann ihr mit einer Knochenmarkspende helfen – sie sind „zu verschieden“ (14), sagen die Ärzte. Und damit fühlt sich Dani nicht nur als „nutzloses Back-up“ (134), sondern es werden starke Schuldgefühle in ihr geweckt. Denn warum trifft es ihre Schwester Jena, die frechere, mutigere und sportlichere von ihnen, und nicht sie selber? Die Folge ist, dass Dani ihrer Schwester nicht mehr zu begegnen weiß: Wie soll und kann sie mit ihr reden? Sie setzt alles daran, ihrer Schwester aus dem Weg zu gehen und das Thema „Jena“ weitestgehend zu verdrängen. Dass der Versuch aber scheitert, darauf weisen nicht nur die auftretenden Schwierigkeiten in der Schule und die Abkehr von den alten Freunden hin, sondern auch die Wut darüber, dass Jena in der Schule scheinbar schon von allen vergessen wird, obwohl sie noch am Leben ist. Den Versuch, zu verdrängen, und die Distanz der Schwestern in den wenigen dargestellten Begegnungen empfindet man als Leser geradezu körperlich mit.

Aber nicht nur Dani hat Schuldgefühle. Vielmehr stellen sich die Schuldgefühle in Form unterschiedlicher emotionaler Fäden als Handlungsmotive aller Figuren heraus, die ineinandergewoben ein Geflecht von Versuchen auslösen, sich oder andere von Schuldgefühlen zu befreien. Die Eltern haben Schuldgefühle Dani gegenüber, weil sie so viel Zeit für Jena aufbringen müssen. Dani hat wiederum Schuldgefühle ihren Eltern gegenüber, weil sie sich nicht in der Lage fühlt, deren Wünsche an sie als einzige „verbleibende“ Tochter ausreichend gerecht zu werden: Sie muss alles schaffen und ihre Eltern glücklich machen. Und Dani weiß, dass die Eltern versuchen, ihre Schuldgefühle ihr gegenüber zu mildern. Und damit verfehlen die Zuwendungen ihre Wirkung, Dani Zeit zu widmen und sie als Tochter mit eigenen Bedürfnissen wahrzunehmen. Dani gibt nur vor, sich zu freuen, um ihren Eltern eine Freude zu machen. Und auch Wut und Trauer treten nicht nur bei Dani auf, sondern auch die Eltern können sich diesen Affekten ihr gegenüber nicht verwehren.

Sarah Wylie spinnt in der ungeschönten Darstellung der Emotionen ein für den Leser grausam engmaschiges Netz zunehmend verknoteter emotionaler Fäden. Allerdings liegt dieses Netz nicht an der Oberfläche, sondern verlangt, in einer aufmerksamen Rekonstruktion der Figurenperspektiven freigelegt zu werden. Die perspektivische Erzählweise von Dani als homodiegetischen Erzähler mit interner Fokalisierung ist dabei eine Verstehenshürde, die nicht ohne Schwierigkeiten zu nehmen ist. Ihre Bewältigung aber zahlt sich aus, um die besondere Schwere der Aufgabe der Familie wahrnehmen zu können. Die Erzählweise aus der Perspektive von Dani ermöglicht es, dass man als Leser darauf aufmerksam wird, auch die Perspektiven derjenigen zu bedenken, denen Dani selber nicht oder nur wertend begegnet – wertend aus ihrer individuellen Position heraus: gelenkt von Schuldgefühlen, Wut und Angst. Darin nämlich steckt die Kraft dieser traurig hingetupften Erzählung. Sie ermöglicht einem einen anderen Blick auf das Thema Krebs in der Jugendliteratur.

Schuldgefühle, Wut und Angst treiben Dani schließlich in einen gefährlichen Pakt mit dem Schicksal. Sie hat nämlich neun Leben wie eine Katze. Das behauptet zumindest ihre Mutter, nachdem Dani schon als kleines Mädchen zweimal dem Tod entkommen ist. Und nachdem ihr Onkel behauptet, dass jedes Leben, das eine Katze verliert, einer anderen Katze zugute kommt, sieht Dani einen Hoffnungsschimmer, wie sie ihrer Schwester helfen kann: Sie stellt sich die grausame Frage, wie viele gute Tage sie wert ist, wenn sie ihr Leben nach und nach abgibt. Sie ist bereit, sich zu opfern – für ihre Schwester, die sie liebt, der sie ihre Liebe aber nicht zeigen kann, weil sie von der Angst erdrückt wird, einen Teil von sich – die Zwillingsschwester – zu verlieren.
Der Versuch aber, sich zu opfern, eröffnet Dani einen Zugang zu Jenas Perspektive und darüber zu sich selbst. Sie erkennt, dass, wenn sie selbst stirbt, Jena sich so fühlen wird wie sie jetzt. Dass es für Jena so aussehen muss, als sei sie geflohen und als habe sie nicht für ihre Schwester gelebt. Sie begreift, dass Jena gerade nicht aufgibt, sondern kämpft, und dass ihr Versuch, ihr Leben zu opfern, eine Flucht darstellt. Und daher beschließt sie zu leben.

Dieser Erkenntnisprozess, der einer Öffnung Danis gegenüber ihren Gefühlen gleichkommt, wird begleitet von einer sich entwickelnden Beziehung zu dem Klassenkameraden Jack. Jack befindet sich in einer ähnlichen Situation wie Dani – er muss damit umgehen, dass sein Vater sich nach einem Schicksalsschlag seinen Gefühlen verschließt. Diese Erfahrung führt ihn dazu, Dani direkt mit ihren verdrängten Aufgaben zu konfrontieren. Und auch dieses Anknüpfen an das Affekt-Geflecht einer anderen Familie gelingt Wylie in überzeugender Weise. Man erlebt, dass ähnliche Erfahrungen eine gemeinsame Sprache darstellen können, die bei anderen Knoten lösen und helfen kann, mit dem eigenen Schicksal umzugehen bzw. die darin verwobenen Aufgaben zu meistern.
Der Einfall, den inneren Reifungsprozess Danis anhand des Mythos der neun Leben einer Katze durchzuspielen, kann als gelungen bezeichnet werden, denn er zeigt in aller Deutlichkeit, wie dünn der Grashalm ist, an den Dani sich aus Verzweiflung klammert.

Als Leser darf man in dieser zwischen Wut und Melancholie pendelnden Erzählung an den Erfahrungen von Dani und den andern Figuren teilhaben. Und dafür kann man Sarah Wylie dankbar sein. Denn darin, Erfahrungen zu sammeln, die man niemandem in seinem realen Leben wünscht, besteht eine Leistung von Literatur. Sie ermöglicht die Auseinandersetzung mit den anthropologischen Grundfragen der Menschen – in diesem Falle u.a. Tod und Liebe – und entlässt den Leser mit einem neuen Blick auf die ihn umgebende Wirklichkeit.
Sein Leben hinzugeben – um an das anfänglich zitierte Johannesevangelium anzuschließen – bedeutet eben insbesondere, für jemanden zu leben oder gelebt zu haben.

In ganz anderer Weise, aber mit vergleichbarer Eindrücklichkeit wie John Green in „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ erzählt Sarah Wylie in „Alle meine Leben“. Über die an manchen Stellen ungelenk oder plump wirkenden sprachlichen Bilder kann man getrost hinweglesen und das Buch allen empfehlen, die John Green als Bereicherung empfunden haben, aber gerne mehr über die andere Seite der Medaille erfahren wollen.

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Diese Rezension wurde verfasst von jhe; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 25.02.2015

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