1984.4

Autor*in
Kerr, Philip
ISBN
978-3-499-21857-6
Übersetzer*in
Gutzschhahn, Uwe-Michael
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
320
Verlag
Rowohlt
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Reinbek
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

In dieser schlüssigen Aktualisierung von Orwells „1984“ und Projektion auf das Jahr 2034 wird die Kritik an totalitären Systemen und die Darstellung totalitärer Machtmechanismen herausgestellt.

Beurteilungstext

Bezug des Romans auf Orwells „1984″; Unterschiede

Mit dem Titel verweist der Autor auf Orwells utopischen Roman aus dem Jahr 1947 und eröffnet mit der seit dem vergangenen Jahrzehnt modischen Auflistungsform eine bedrohliche Fortsetzung und Variation der bei Orwell geschilderten menschenfeindlichen Zustände bis in die Gegenwart und nahe Zukunft von 2034.

In die Handlung eingebettet sind aktuelle, durch die Medien auch Jugendlichen geläufige Probleme: Zerstörung des Planeten durch Kriege und Umweltvergiftung, gravierende Versorgungsmängel bei Übervölkerung und Überalterung der Gesellschaft, rücksichtslose Ausbeutung unterprivilegierter Menschengruppen.

Während aber Orwells Roman hoffnungslos desolat endet, indem ein ausgefeiltes totalitäres Gesellschaftssystem seine Untertanen so umklammert, dass als Beispiel die Hauptfigur, ein Erwachsener, am Ende nur noch wie eine bewusstlose Maschine funktioniert, bietet Kerr eine positive Perspektive: Erstens hat das geschilderte totalitäre System den Abschluss seiner Entwicklung noch nicht erreicht; das Regime muss sich zu seiner Manifestation noch einer Reihe perfider Mittel bedienen. Ihre Penetranz – z. B. implantierte Kontrollmechanik, Brutalität, Einsatz eines medialen Verdummungsapparates – eignet sich dazu, bereits in den ersten Romankapiteln die Leser mit empörter Überraschung zu erfüllen und auf eine spätere Opposition der Hauptakteure vorzubereiten. Zweitens: Die Hauptakteure sind Jugendliche, nicht unwichtige Nebenakteure einige widerstandsfähige ältere und alte Menschen aus günstigeren (ererbten) sozialen Verhältnissen. Vor allem sind es Jugendliche, aus deren Gruppe ein Mädchen am Ende den Umsturz zum (vielleicht) besseren startet.

Inhalt
Florence Newman, 16 Jahre alt, ist stolz darauf, im SS (Senioren-Service) einen Ausbildungsplatz erhalten zu haben. Von dieser Laufbahn – sonst nur den BMW's (Elitegruppen) vorbehalten – erhofft sie sich einen weniger kargen persönlichen Lebensstil als üblich und finanzielle Möglichkeiten zur Unterstützung ihrer in jeder Hinsicht minderbemittelten Familie.
Der Senioren-Service erfüllt in der Gesellschafts-Konzeption des Regimes von 2034 die wichtige Rolle, Überalterung und Überbevölkerung und die daraus resultierenden wirtschaftlichen Folgen einzuschränken. Sobald Angehörige dieses Herrschaftssystems, das global die wenigen noch verbliebenen Erdteile verwaltet und seine Zentrale auf der WHI (Westhalbinsel, ehemals England/Wales) hat, ihr 50. Lebensjahr erreichen, müssen sie sich dem CM Scan unterziehen. Das ist eine Überprüfung ihrer körperlichen und geistigen Kräfte, bezogen auf ihre weitere Verwendbarkeit (Anpassungsfähigkeit) in einer Welt, deren Defizite eher kaschiert als beseitigt werden. Je nach Testergebnis und Prognose wird das Eliminierungsdatum der Kontrollierten festgesetzt und amtlich dokumentiert.
Als Todesform können sie wählen zwischen „Vaporisierung“ (Auflösung zu trinkbarem Wasser) und Einäscherung, d. h. Einspeisung in das nationale Stromnetz. Ihr Einverständnis zum Nutzen jüngerer Generationen wird erwartet.

Es gibt aber immer wieder Personen, die sich diesen Maßnahmen entziehen. Für diese ist der SS zuständig, der sie aufspüren und in den „Ruhestand“ versetzen soll.

Das geschieht durch Erschießen. Die Gruppe der jugendlichen Amtsanwärter*innen hat das zunächst an äußerst echt wirkenden SIMS (optischen Simulationen) zu üben. Sie sind mit alterstypischen, oft ekelerregenden Mängeln ausgestattet, die etwa aufkommendes Mitgefühl schnell erkalten lassen. Vermischt sind diese Hologramme mit einigen echten alten Menschen, die ihre längere Lebensberechtigung als Trainingsobjekte für das Reaktionsvermögen der „Lehrlinge“ unter Anwendung sog. Wristpads auszuweisen haben. Das sind in die Handgelenke implantierte Kontrollapparate mit Pendants in den Handgelenken ihrer Verfolger. Irrtümer bei der Auswahl der Ziele bestrafen die Kursleiter mit peinigenden Stromstößen.

Weniger streng überprüft wird die Aneignung eines „Bildungskanons“. Er besteht in der beliebigen Kenntnisnahme von Kurztexten, die aus historischen vernichteten Büchern in einem Lexikon zusammengefasst und fortwährend überarbeitet werden, im Auswendiglernen von Definitionen vorgeschriebener Wertvorstellungen und im Einprägen von Abkürzungen (s. SS, BMW…). Die Wortwahl ist oft von Jugendjargons geprägt, wodurch sie amüsant, aber auch oft zynisch und für ernsthafte Diskussionen ungeeignet wird. (z. B. „Taschenuhr“ = Unzeitgemäßes, Nutzloses, auch für alte Menschen gebraucht). Der Autor hat ein kurzes Lexikon derartiger Jargons an den Buchschluss gestellt.

Pflicht für die Bevölkerung ist die Teilnahme an täglich verordneten zweiminütigen Lachübungen zur Stärkung positiver Zusammenzugehörigkeitsgefühle. Die Witze dafür liefert die „Untge“ (Unterhaltungsgesellschaft, ein Kulturbehördenersatz). Als Events gelten auch Hinrichtungen.

Wenn auch Florence ihr Leben beim SS als beste Zeit ihres jungen Daseins ansieht – ohne Nahrungs- und Wohnungssorgen, sie selbst respektiert wegen ihrer Lernerfolge und von Verehrern bewundert – empfindet sie bei einigen Wahrnehmungen Unbehagen: Mitschüler verschwinden unerklärt, die aufgezwungenen Amüsierprogramme verachtet sie, und vor allem bemängelt sie, dass Aufstiegschancen in der Gesellschaft ungleichmäßig verteilt sind.

Ihre Kritik erfährt sofort die Zentrale. Sie wird in den 300 m hohen Bloody Tower, eine Einschüchterungsarchitektur der Geheimpolizei, bestellt. Dort versucht man, ihr die verdienstvolle Funktionalität der staatlichen Maßnahmen einzutrichtern, zwar per Gehirnwäsche, aber doch mit einer gewissen Schonung. Denn mit ihrer beispielhaften Disziplin und ihrem vom Regime bevorzugten Menschentypus: blond, blauäugig, groß, schlank, in der Eleganz ihrer schwarzen, silberbetressten Uniform gilt sie als werbewirksames Aushängeschild.

Eine ihr nach dem Verhör gewährte unkontrollierte Belohnungsfreizeit hat für Florence aber ganz andere Folgen als die von der Behörde beabsichtigte harmlose Entspannung – und mit dem folgenden letzten Drittel des Romans leitet der Autor eine Handlungswende ein: Beim Schlendern durch die von ihr sonst kaum besuchten, ärmlichen Stadtteile entdeckt Florence einen kleinen Antiquitätenladen und damit ihr Interesse für „nutzlose“ Geschichtsrelikte. Sie entdeckt in sich neue Gefühle, sozusagen ihr „Herz“ – auch plötzlich eingedenk des trostlosen Alltags ihrer Familie (Eltern und zwei Brüder), vor allem ihrer Mutter, für die sie ein Geschenk erwirbt, „unnütz“, aber schön. Beim Besuch der Familie in dem ärmlichen Viertel führt die neu gewonnene vertrauliche Stimmung zwischen ihr und ihrer Mutter diese zu der Mitteilung, dass sie aufgrund ihres 50-jährigen Geburtstages einen gesundheitlichen Überprüfungstermin erhalten habe. Und wegen Demenzmerkmalen – mangels Ernährung, Bildungschancen und Medikamenten in der Arbeiterschicht verbreitet – auch keine Lebensverlängerung erwarte.
Entsetzen und Empörung sensibilisieren Florence in der Folge bei ihren befohlenen SS-Einsätzen. Als sie sich dabei vorübergehend in ein altes Kino flüchten muss, findet sie sich mit einem jungen Besucher, Eric, im Wertschätzen eines alten Films zusammen. Sie verlieben sich ineinander.
Beide finden für die nächste Zukunft in dem unauffälligen Antiquitätengeschäft einen Zufluchtsort, wo der Ladenbesitzer, ein Regimegegner, alle Überwachungsapparate ausschalten kann.
Es stellt sich heraus, dass Eric, privilegierter Mitarbeiter des Unterhaltungsressorts, Zugang zu geheimen Wohnungen in stillgelegten Bibliotheken hat. Hier versteckt er seine Eltern, zur großen Erleichterung Florences auch ihre Mutter, zusammen mit anderen bejahrten Personen, die, hier ausreichend versorgt, auf eine Fluchtgelegenheit in die Schweiz warten. Das ist die letzte Zone auf der Erde, die der mörderischen Macht des autoritären Regimes entzogen ist.

Gegen Ende des Romans steigert der Autor die Spannung mit gefährlichen Situationen, in die Florence zusammen mit einigen ihrer Kollegen aus dem SS verwickelt wird. Es kommt zu einem emotionalen Höhepunkt, einem Wutausbruch Florences, in dem sie einen Angriffslauf auf den Tower macht, durch dessen Fenster sie Gewehrschüsse schickt. So eröffnet sie den offenen Kampf gegen die Tyrannei.

Beurteilung
Es ist unmöglich, hier den vielen auch ironischen Verweisen nachzugehen (s. die Schweiz im Roman als Rettungsort für Überlebenswillige, wo doch gerade dort gegenwärtig die Sterbehilfe gekauft werden kann, oder s. der moderne Medienterror oder moderne Formulierungen mit ihrem Abkürzungsfimmel).

Wichtig sind die vielen Anknüpfungspunkte für Diskussionen von Personen jeden Alters. Dabei ist denkbar, dass Probleme wie z. B. die Überalterung der Gesellschaft mit allen Mangelfolgen besondere Aufmerksamkeit von (jugendlichen) Lesern finden. Vor allem ihre Lösung durch Lebensbegrenzung, wie sie im 1. Kapitel des Romans inhuman, aber attraktiv reißerisch geschildert ist, mag bei einigen Lesern für die Zukunft als vernünftig gelten, wenn nur die Auslöschungsmethoden erträglicher erfunden werden.

Natürlich ist die Entwicklung des Planeten, der „Irrtümer“ der menschlichen Rasse, der menschlichen Gesellschaften, ihrer Verirrungen, die zu Zuständen, wie im Roman geschildert, führten, ein weites Feld für Gespräche.

Auch der historische und aktuelle Faschismus, in der Schule von Lehrern und Schülern aus Überdruss oft verdrängt, kann anhand der sinnfälligen Hinweise des Autors (Menschentypus, Uniform, Gehorsamsfanatismus, Menschenverachtung) neue Aufmerksamkeit erfahren. Zudem wird der Leser viele Zivilisationsformen, auch die unangenehmen, wiedererkennen.

Zwar ist das Buch vermutlich auch für den einzelnen Leser, sofern er nicht überhaupt
schon Bücher als zu „textlang“ verwirft, fesselnd geschrieben, in einfacher, treffender Sprache, aber das Lesen in Gemeinschaft scheint für handlungsorientierte Gespräche auf jeden Fall ergiebiger.

Sehr zu empfehlen!
G. Brötje

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von gbr; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 08.02.2022

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