1984.4

Autor*in
Kerr, Philip
ISBN
978-3-499-21857-6
Übersetzer*in
Gutzschhahn, Uwe -Michael
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
320
Verlag
Rowohlt
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2021
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Der 2018 verstorbene Bestsellerautor unternimmt in seinem posthum veröffentlichten Jugendroman eine Zeitreise in eine nahe Zukunft. Beeinflusst von Orwells Roman „1984“, thematisiert er im Rahmen einer Liebesgeschichte Entwicklungstendenzen im gesellschaftlichen Leben, um Jugendliche damit zu konfrontieren.

Beurteilungstext

Das Geschehen ereignet sich im Jahr 2034.4 in einem „Paralleluniversum“. Dschihadisten haben in einem Religionskrieg London überfallen und Kunstgegenstände vernichtet. Unter dem Jubel des Mobs werden einige der Terroristen öffentlich hingerichtet. Trotz Mangelversorgung sind Alkohol, E- Zigaretten und elektronische Medien zum Zudröhnen billig zu haben. Gedruckte Bücher wurden einbezogen, um Zellstoff zu gewinnen; E- Bücher sind durch einen Virenangriff auf die Datenbanken von Bibliotheken unbrauchbar geworden. Der Kulturverlust wird kompensiert mit einem täglich ausgestrahlten „Zweiminuten – Lachen“ als Gute - Laune - Pflichtprogramm für alle. Gesellschaftliche Gegensätze werden zwischen Alten und Jungen, Kranken und Gesunden, zwischen dem normalen Volk“ und den BMWs (Beste Menschen-Wesen) ausgetragen. Letztere besetzen als gesellschaftliche Oberschicht alle wichtigen Ämter in diesem Überwachungsstaat. Ab 21.00 herrscht Ausgangssperre für alle Bürger zu ihrem Schutz. Bei der Machtausübung stützt sich der „geheimnisvolle Winston“ auf eine hochentwickelte, den Personenschutz missachtende Digitalisierung und auf die Jugend.
Die 16-jährige schöne, blonde, blauäugige Florence Newton „aus dem normalen Volk“ löst sich aus einem prekären Familienverhältnis. Sie gehört zu den etwa tausend auserwählten Jugendlichen, die ihren Dienst als RUV (Ruhestandsvollstrecker) in einem SS (Senioren- Service) ausüben. Um Platz für die Jüngeren zu machen, „docken“ (töten) sie alternde kranke Menschen. Diese werden einem CM-Scan unterzogen, einem „Screening zur Feststellung bei Menschen über 50, wie lange sie noch geistig und körperlich fit sein werden und wann sie sich dem Plan der freiwilligen Euthanasie (PFE) ergeben müssen.“ (S. 313) „Alterskriminelle“, die sich widersetzen, werden „platt gemacht.“ Voller Stolz verkündet Florence: „Es nimmt kein Ende mit den Alten. Ich habe in weniger als fünf Wochen achtzig flüchtende Altersschwache erschossen.“ (S. 109).
Allmählich stellt das Mädchen aus persönlicher Betroffenheit ihre eigene Arbeit und die herrschenden Zustände in Frage. So muss sie ihre Liebe zu dem 19-jährigen Eric Blair, einem systemkritischen BMW, geheim halten. Eric befördert ihr politisches Denken und ermutigt sie zum Widerstand. Er hält seine Großeltern in einem Versteck am Leben und versorgt sie mit teuren Medikamenten. Mit seiner Hilfe rettet Florence das Leben ihrer gerade 50-jährigen 1984.4 geborenen Mutter, als diese sich schicksalsergeben wegen erster Anzeichen von Vergesslichkeit auf ihre baldige Euthanasie vorbereitet.
Florence steht als Identifikationsfigur mit ihren inneren und äußeren Konflikten im Mittelpunkt einer mit Problemen überfrachteten Handlung. Die spannende Story wird häufig durch längere, auktorial eingeschobene Kommentare unterbrochen, z. B. über Darwinismus, absolute und relative Wahrheit, Krieg und Frieden… Diese Reflexionen des Autors verlangen literarisches Lesen. Schnelle, mehr auf triviale Unterhaltungsliteratur ausgerichtete Leser haben damit ihre Probleme. Verpackt im Krimi bzw. Liebesroman, befördern diese Hintergrundinformationen jedoch zwingend das Nach- und Weiterdenken im Hinblick auf ethische Normen im gesellschaftlichen Leben:
Im Unterricht der Internatsschule dominieren simultan angelegte Video- Seminare und grausame Tötungsspiele. Wie Altersschwache enttarnt und getötet werden, das wird in mehreren Episoden wie in einem Triller nahezu szenisch dargestellt. Mit Ansprachen und Ritualen, die an den deutschen Faschismus erinnern, werden die Jugendlichen auf den geheimnisvollen „Winston“ eingeschworen, der sie gefügig und gefühlskalt braucht. Trotz Manipulation, Konkurrenzkampf, Gleichschaltung und Bespitzelung entwickeln sich soziale Beziehungen in der Peer-group. Einige brechen mit dem perfiden Kontrollsystem, werden zum Rebell oder Märtyrer, andere bleiben darin gefangen. Jeder RuV trägt ein Wristpad, ein elektronisches Überwachungsgerät am Handgelenk. Florence als „hervorragende junge Soldatin, eine unserer künftigen Führerinnen“ steht unter besonderer Kontrolle der Geheimpolizei. Sie leidet unter dem Verlust ihrer Privatsphäre, bedauert kulturelle Bildungsdefizite und sucht heimliche Kontakte außerhalb der Schule. Voller Interesse stöbert sie im Antiquariat von Mr. Charrigton, der sie ermutigt, ihre Probleme und Konflikte einem Tagebuch anzuvertrauen. Obwohl das verboten ist und bestraft wird, „schreibt sie eines Tages einen wichtigen Gedanken in Großbuchstaben in dieses Buch:
ICH HASSE WINSTON … wieder und wieder, bis die Seite voll war.“ (S.156)
So motiviert beginnt Florence ihre „Einpersonen - Revolution mit eisiger Entschlossenheit, die unselige Regierung und deren niederträchtige Institutionen zu stürzen.“ Sie malt rebellische Parolen auf Ziegelwände und feuert mit ihrer „Ticktock“ ein paar Schüsse auf die Fenster der Geheimpolizei. „Der große Kampf gegen die Tyrannei hatte begonnen. Sie hatte über sich selbst gesiegt. Jetzt musste sie nur noch Winston besiegen.“ (S.309).
Die Geschichte wird in 30 Kapiteln erzählt und ist im Redestil besonders auf jugendliche Leser zugeschnitten. In der häufig verwendeten direkten Rede sind Wortwahl, Satzbau und Aussprache durchdrungen von Jargonausdrücken, Code – und Kurzwörtern, die aus dem Englischen treffend übersetzt sind und sich so sehr gut aus dem Kontext erschließen lassen.
Ein Glossar im Anhang erklärt, alphabetisch geordnet, Wörter aus dem „Jargon im Senioren – Service“ und „Sonstige Begriffe und Abkürzungen“.
Im Vorwort, bestehend aus einer kurzen „Anmerkung des Autors“ vom April 2015, nimmt dieser Bezug auf Orwells Roman „1984“.
Christiane Steens Nachwort vom Oktober 2020 widmet sich dem Leben und Schaffen des Autors, richtet sich besonders an Jugendliche und gibt eine Leseempfehlung für das Buch:
„Stell dir eine Welt vor, in der alles anders ist als in unserer, die aber parallel zu unserer existiert. Vertrau deiner Phantasie, alles ist möglich.“
Ob und wie in der Vorstellungskraft Jugendlicher über eine Parallelwelt auf der WH1 (Westhalbinsel, ehemals England und Wales ) im Jahre 2034.4 heutige Probleme wie Klimawandel, Migration, Rassismus, Antidiskriminierung weiterhin thematisiert werden, das kann man hinterfragen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Kra; Landesstelle: Sachsen.
Veröffentlicht am 07.09.2021

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