Zwischen zwei Fenstern

Autor*in
Touchell, Dianne
ISBN
978-3-551-56004-9
Übersetzer*in
Schmitz, Birgit
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
253
Verlag
Carlsen
Gattung
Ort
Hamburg
Jahr
2014
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
15,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Irgendwann, aber doch unweigerlich, ist jeder vor die Aufgabe gestellt, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden, wenn der Schutzraum der Kindheit in sich zusammenfällt. Dass Erkennen und Erkenntnis in diesem Prozess zerstörerische Wirkung haben können, das wird einem in diesem Buch in schonungsloser Intensität vor Augen geführt. Und ob man es will oder nicht, man blickt auch in sich selbst und sieht vielleicht mehr als man will... Am Ende ist man mit großer Sicherheit nicht mehr der gleiche Leser.

Beurteilungstext

Der Königskinder Verlag hat schon u.a. mit den Romanen „Anders“ von Andreas Steinhöfel und „Die Anarchie der Buchstaben“ von Kate de Goldi bewiesen, dass sein Programm sich durch Werke auszeichnet, die das Potential haben, die Leser zu berühren und zu verändern. Dass sich die Veränderung nicht automatisch in verändertem Verhalten niederschlägt, spielt keine Rolle. Aber als Leser merkt man kurz auf, hält inne und wird auf sich selbst verwiesen. Und genau dieses Potential von Literatur, in fremden Zungen zu sich selber zu sprechen, besitzt der Debütroman „Zwischen zwei Fenstern“ der australischen Schriftstellerin Dianne Touchell in geradezu prototypischer Weise.

In wechselnder Perspektive wird ein schonungsloser Blick in den Abgrund des Suchens danach geworfen, wofür man leben will, was einen trägt und woran man glauben kann. Und glauben können die beiden Protagonisten an nichts mehr. Es ist insbesondere das Erkennen der Unwahrhaftigkeit der Menschen, das die Protagonisten in einem Maße desillusioniert und verängstigt, dass sie sich der Welt entziehen. Ihre Erkenntnis, dass es in Beziehungen nicht um Wahrheit und Wahrhaftigkeit geht, ist so erschreckend, wie sie leider auch wahr ist: Macht, strategisches Handeln zum eigenen Vorteil und Freundschaften um der Tarnung willen. All das scheint die Menschen anzutreiben. Insbesondere die gescheiterten familiären Beziehungen zwingen Maud und Creepy – die beiden jugendlichen Nachbarn – diese Erfahrung auf. Dass sie die Liebe als unheimlich empfinden, weil sie Erwartungen weckt, die niemals erfüllt werden, ist auch für den Leser ein Schock: Die Liebe wird als Hoffnungsschein abgewertet, dessen Versprechen nicht wahr werden. Beiden bleibt im Grunde nichts Erstrebenswertes mehr.

Der radikale Entwicklungsprozess von Maud und Creepy wird in abwechselnder Perspektive erzählt. Sie sind Nachbarn – und sogar Klassenkameraden –, haben aber noch nie miteinander gesprochen. Sie beginnen ihre Annäherung mit der zunächst distanzierten Beobachtung von ihrem je eigenen Fenster aus. Creepy, der sich vor der Welt nicht nur in sein Zimmer und in seine Bücher zurückzieht, sondern in allen Situationen versucht, unsichtbar und dadurch auch unangreifbar zu sein, beobachtet Maud mit dem Fernglas. Seine Angst vor Beziehungen und Nähe hat in ihm die Gabe gefördert, messerscharf zu beobachten. Er liest die Körpersprache der Menschen und blickt dadurch hinter ihre Fassade. Was er bei Maud findet, ist abstoßend, aber wahrhaftig. Für Maud verhindern die Erwachsenen jede Form der Entwicklung der wahren Persönlichkeit. Sie leidet unter dem Gefühl, sich dem vorgefertigten Bild anpassen zu müssen und sich selber im Opfer an die Normalität zu verlieren. Lebendigkeit und sich selbst spürt sie im Ausreißen von Haaren: büschelweise, am ganzen Körper. Trichotillomanie heißt das Krankheitsbild, das eine Störung der Impulskontrolle bezeichnet. In dieser Reaktion gegen sich selbst als Antwort auf die Gesellschaft erkennt Creepy eine Persönlichkeit, die wahr und wahrhaftig ist, weil sie sie selbst zu sein versucht.

Zwischen Maud und Creepy entwickelt sich nach und nach eine Beziehung – die erste Beziehung überhaupt, die als echt und nicht als bloßer Schein empfunden wird. Sie kommunizieren über Zettel, die sie sich an die Scheibe halten. Und diese Kommunikation, die sich zwischen den Fenstern entfaltet, birgt ein Wahrhaftigkeitspotential, das beiden bisher unbekannt war. Es besteht eine Verbindung im ‚dritten Raum’, die die eigenen Gefühle gespiegelt im anderen zeigt. Schonungslos offen sind beide und dennoch können sie sich langsam annähern und in ihrer Beziehungs- und Menschenangst zunehmend etwas Mut gewinnen: Sie haben eine große Nähe bei gleichzeitiger Distanz.

Wenn man auf den ersten Seiten noch schmunzelt, weil das Buch harmlos und durchaus witzig zu erzählen anhebt, wird man schon früh von der schier unerträglichen, weil verstörenden Atmosphäre eingenommen. Creepy entpuppt sich als ein ironischer, ja sarkastischer Erzähler, der zurückgezogen von der Welt beobachtet und erkannt hat, dass Wahrheit eine Lüge ist, die allen ermöglicht, das Spiel des Lebens weiterzuspielen. Abgeklärt und entlarvend tritt er auf, nicht mehr bereit, eine Verbindung zu irgendjemandem aufzunehmen.
Maud ist weniger beherrscht: Sie horcht nach Zwischentönen und erkennt auch Untertöne. Ihr Erzählen ist emotionaler und darin ergreifender. Es fällt einem leichter, zumindest ansatzweise empathisch einzusteigen – wenngleich Empathie von Creepy als schlimmste Form des Wahnsinns bezeichnet wird.
Sympathisch ist allerdings keine der beiden Figuren. Und das ist auch gut so, denn so wird unreflektiertes Abtauchen und Mitfühlen so deutlich erschwert, dass man sich als Leser niemals aus dem Blick verliert und seine eigenen Affekte spürt. Ekel, Erschrecken, Angst und eben auch – respektive infolgedessen – Erkenntnis über sich, über die Gesellschaft, über das Leben erlangt.
Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass in diesem Roman von menschlicher Eitelkeit und Oberflächlichkeit, von Enttäuschung und Zerbrechen und zarten Versuchen, dennoch Nähe herzustellen, erzählt wird. Denn die Liebe zwischen Maud und Creepy ist zwar ohne jede Romantik, aber darin ist sie brutal und bedingungslos und birgt einen Funken Hoffnung. Ein Fünkchen fernab vom großen Happyend.

Eines steht fest: Dianne Touchell besitzt eine außergewöhnliche Fähigkeit, atmosphärisch so auszuformulieren, dass einem der Atem wegbleibt. Ohne große Knalleffekte wird das Ringen von zwei Individuen komplex und tiefgründig dargestellt und dazu eine Gesellschaft offengelegt, die vielleicht weniger literarisch und perspektivisch verzerrtes Kondensat ist, als einem als Leser lieb wäre.

Unsicher bin ich, ob dieses Buch wirklich für Jugendliche ab dem vierzehnten Lebensjahr zu empfehlen ist. Denn die Thematik ist derart verstörend, dass ich – ohne bewahrpädagogisch das pädagogisch wertvolle Buch und Heile-Welt-Bilder einfordern zu wollen – beunruhigt bin, ob man Hoffnungen zerstört, die als Motor einer sensiblen Zeit dringend erforderlich sind. Dass Erwachsene und nicht zuletzt Personen, die mit Jugendlichen beruflich zu tun haben – und nicht nur in literaturpädagogischen Zusammenhängen –, dieses Buch lesen sollten, bleibt unbezweifelt. Und greift man zu diesem Buch, dann muss man sich Zeit nehmen. Nicht weil es lang ist, sondern weil vieles erzählt wird, ohne wirklich beschrieben zu werden; gleichsam „zwischen den Zeilen“ in einem dritten literarischen Raum.

(Jochen Heins, AJuM Hamburg)

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von jhe; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 29.03.2015

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