Zivildienstroman

Autor*in
Bartel, Christian
ISBN
978-3-551-68182-9
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
224
Verlag
Carlsen
Gattung
Ort
Hamburg
Jahr
2011
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Dieser “Zivildienstroman” könnte als problemorientiertes Jugendbuch trotz oder wegen des inzwischen unzeitgemäßen Titels einen dauerhaften Platz in der Jugendliteratur finden. Die Zeit der Identitätssuche unmittelbar nach dem Abitur (Freundschaft, Liebe, soziales Engagement ) wird durch einen Ich - Erzähler voller Humor, unterhaltsam und glaubwürdig dargestellt. Im Mittelpunkt steht dabei sein Freiwilligendienst in einer WG geistig behinderter Jugendlicher.


Beurteilungstext

“Wir sitzen in Tante Matthes´grünem Trabantenkombi, lutschen auf unseren Papierfetzen herum und mir kommen ernsthafte Zweifel , ob ich wirklich auf LSD zur Abi- Zeugnisverleihung gehen sollte...”(S. 3)
Bereits dieser den Roman einleitende erste Satz verweist auf das Thema: Pubertätserlebnisse. Das vom anonymen Ich - Erzähler verwendete Präsens wirkt wie ein Gesprächsangebot an Jugendliche, sich zu seinen Erlebnissen in Beziehung zu setzen. Literarisch humorvoll und hintergründig verpackt, werden zugleich individuelle und gesellschaftliche Konflikte beim Erwachsenwerden reflektiert. Der Roman untergliedert sich in 21 Kapitel mit einer im Zopfmuster verknüpften Handlung und einem umfangreichen Figurenensemble. Dabei transportiert der Autor seinen Ich - Erzähler, vom Leser oft unbemerkt, von der Gegenwart in die Vergangenheit oder Zukunft oder er verschafft ihm groteske fiktive Erlebnisse zum Lachen und Nachdenken. Die Handlung widerspiegelt in Raum und Zeit die 90er Jahre, also die Jugendzeit des 1975 geborenen Autors, gleichzeitig wirkt sie sehr heutig und zukunftsoffen. Kompositorisch und sprachlich gekonnt in Szene gesetzt, sind u.a. Probleme
- um den Drogenkonsum:
(Der Erzähler, der sich das LSD von der ABI - Feier “für einen Moment des perfekten Glücks” aufgehoben hat, verabreicht es im letzten Kapitel sich und seiner Vermieterin, der geistig verwirrten und Selbstmord gefährdeten Oma Wittrich - mit ungeahnten Effekten...)
- um die Rolle von Liebe und Sex beim Erwachsenwerden:
(Der Erzähler ist in seine ehemalige Klassenkameradin Rike verliebt. Er “pennt” mit Carina, während er sich um seine großen Liebe Sarah sehr bemüht. Erotische Erlebnisse, z. B. als Modell in einem Kurs für Aktzeichnen, besonders auch das sexuelle Miteinander zwischen den geistig behinderten Jugendlichen werden tabulos, sprachlich zwar derb, aber nicht zotig oder schlüpfrig geschildert.)
Im Fokus stehen u.a.die Versuche mehrerer Abiturienten, “das Leben in die eigene Hand zu nehmen”...(S.37)
Mit diesem Selbstfindungsprozess ist der Roman auf Grund des umfangreichen Figurenensembles leider ein wenig überfrachtet. So wird die weitere Entwicklung der Einzelnen (zum Atomphysiker, zum Leiter eines großen Autohauses, zum Redenschreiber für einen Bundestagsabgeodneten, zur Leiterin einer florierenden Agentur für Personenschutz in Tel - Aviv) nur plakativ angedeutet. Viele Konflikte, z. B. mit den Eltern und anderen Erwachsenen werden nicht ausgetragen.
“Die Kurve zum Erwachsenwerden” (S. 216) führt bei dem Ich - Erzähler über den Freiwilligen- bzw. den Zivildienst.
Man muss zwischen den Zeilen lesen und sich auf fiktive Rollenspiele einlassen, um Motive für seine Kriegsdienstverweigerung zu erkennen.

(Bei der Bewerbung zum Freiwilligendienst in Israel findet man sie in einem Dialog, der sich thematisch mit dem israelisch - palästinensischen Konflikt beschäftigt. (S. 20 ff.)
Während der “Zivildienstschule” wird er als “angehender Zivi auf Selbsterfahrungstrip” im Rollstuhl zum Kölner Hauptbahnhof geschickt. Dort simuliert er auf hanebüchene Art vor zwei hilfreichen Rekruten einen Behinderten, der seine Kriegsverletzung angeblich dem Bosnienkrieg verdankt. (S. 82 ff.)
Als Zivi eingeteilt zur “arbeitsunterstützenden Betreuung” gibt er in mehreren Episoden auf warmherzige Weise, literarisch schwarzhumorig untersetzt, in unnachahmlicher Erzähldiktion einen Einblick in das Zusammenleben geistig behinderter Menschen in einer WG.
“...Das ganze Behindertenbusiness ist ein so hochsensibles Ökosystem mit ellenlangen Interdependenzketten, und wenn nur ein winziges Detail verändert wird, gerät alles aus den Fugen. denn wenn z.B. Günther wegen der fehlenden Zwiebel am nächsten Tag nicht arbeiten gehen kann, ärgert sich seine Kollegin Annika aus der Behindertenwerkstatt darüber, lässt das in der Mittagspause an Trautchen aus, worauf Trautchen heimlich ihre Sachen packt und zu ihrer Lieblingsoma fahren will, um sich trösten zu lassen, obwohl sie vergessen hat, wo diese Lieblingsoma wohnt, die überdies vor zwölf Jahren verstorben ist, was Trautchen natürlich ebenfalls vergessen hat, und fünf Stunden später kommt dann ein Anruf von der Polizei, dass eine verwirrte Person abzuholen sei, die auf den Namen <Trautchen> hört und in einem gelben Haus mit roten Fenstern wohnt, bei dem die Frau Bernau von Chef ist.” (S. 119)
Solche Situationen sind vom Autor zum Lachen, aber nicht zum Gespött freigegeben. Sein Ich - Erzähler kommt zu der Erkenntnis: “Ich bin einer derjenigen, deretwegen die Hauptamtlichen sagen: Das Gesundheitswesen würde zusammenbrechen ohne Zivis. (S. 126/127)
Hoffen wir, dass es angesichts der aktuellen Situation nicht dazu kommt. Eine Botschaft des unterhaltsamen Romans ist u.a. die Aufforderung an junge Leute, sich sozial zu engagieren.










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Diese Rezension wurde verfasst von kra.
Veröffentlicht am 01.01.2010