Zerbrochener Mond

Autor*in
Gardner, Sally
ISBN
978-3-551-58307-9
Übersetzer*in
Herzke, Ingo
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Crouch, Julien
Seitenanzahl
277
Verlag
Carlsen
Gattung
Ort
Hamburg
Jahr
2014
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,90 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der Außenseiter Standish Treadwell lebt mit seinem Großvater in Zone 7, wo alle Unreinen hin umgesiedelt werden. Bedrohung und Hunger bestimmen den Alltag. Sie leiden unter den Repressionen des totalotären Regimes des Mutterlandes. Seine Eltern sind verschwunden oder tot, er weiß es nicht. Als sein einziger Freund Hector auch verschwindet, scheint der Junge völlig schutzlos, entwickelt aber den Mut eines David, der fest entschlossen ist, Goliath mit einem Stein zu besiegen.

Beurteilungstext

Sally Gardner versteht es, Spannung aufzubauen, den Fokus immer wieder aus neuen Perspektiven zu justieren, wie Schlaglichter, die sich allmählich dem Unausgesprochenen nähern. Am Anfang sind weder Zeit noch Ort klar, an dem die Geschichte spielt: Mutterland, Zone 7, man fühlt sich an das schlechte Leben in Distrikt 12 der “Tribute von Panem” erinnert. Die Illustrationen von Julien Crouch lassen keinen Zweifel daran, dass es sich hier um eine wirklich düstere Geschichte handelt: Schnell geblättert wirken die Zeichnungen wie ein Daumenkino, das unmissverständlich Verfall, Tod und Zersetzung zeigt. Es hat etwas mit Ratten, mit Blattläusen und Maden zu tun, mit Ledermantelmännern und mit dem ersten Flug zum Mond, also irgendwann vor 1969. So setzt sich allmählich das grausige Szenario eines menschenverachtenden Systems zusammen, das zwischen “Reinen” und “Unreinen” unterscheidet, eine monströse Propagandamaschinerie in Gang hält und wo Hunger, Brutalität, Bespitzelung und Tod zum Alltag gehören. In dieses Umfeld setzt Gardner ihren Protagonisten: Standish, den Jungen mit den zwei verschiedenen Augen, der als einziger nicht lesen und nicht schreiben kann. Schon diese beiden Attribute würden genügen, ihn abzutransportieren und sein Leben auszuradieren, doch an seiner Schule, die sein Vater vor seinem Verschwinden geleitet hatte, genießt er, ohne es zu wissen, Protektion, die seine Entlassung und damit seinen Abtransport bisher verhindert hat. Seitdem er seine Eltern verloren hat, meistert er mit seinem Großvater zusammen das trostlose und beängstigende Leben. Auf ungewöhnliche Weise lernt er seinen einzigen Freund kennen, Hector, dessen Familie ebenfalls in die Zone 7 umgesiedelt worden ist, genau in das Haus, in dem Standish mit seinen Eltern vor deren Verschwinden gewohnt hatte. Hector ist so ganz anders, ist stark, mutig und unbeugsam, an den wagt sich niemand heran, sodass auch Standish nicht mehr von der Folterclique seiner Klasse verprügelt wird. Hecor gibt ihm das neue Gefühl, ein kostbarer Mensch mit besonderen Begabungen zu sein. Fantasie und Einbildungskraft, zwei vom Mutterland unerwünschte Kräfte, schätzt er an ihm am meisten. Doch plötzlich verschwindet Hector und Standish ist wieder einsam, wird wieder schikaniert und die Mondlandung, die den Feinden die Überlegenheit des Mutterlandes zeigen soll, interessiert ihn schon lange nicht mehr. Der Mondmann, der doch auf dem Weg zur ersehnten Mondlandung sein sollte, taucht auf und versteckt sich in ihrem Keller. Standish ahnt, was sich in dem gigantischen Bauwerk hinter der Mauer abspielt und wohin die Menschen verschwinden. Er fasst den Mut, das moralisch einzig Richtige zu tun, auch wenn es sein Leben kosten sollte.
Gardners Sprache ist hart und direkt, wenn sie schonungslos und detailiert die Grausamkeiten beschreibt, denen die Menschen ausgeliefert sind. Sie bildet ab, wovon man sich abwenden möchte. Aber: Ist das für die Geschichte unbedingt notwendig oder bedient Gardner hier den vermeintlichen Anspruch einer Ziel- oder Altersgruppe? Einfühlsam zeichnet sie die Außenseiterrolle ihres Helden, die Demütigungen und Schmerzen, aber auch seine kreativen Strategien, seine Kraft und mutige Geisteshaltung, zu der er im Laufe der Erzählung gelangt. Gelungen ist die Entwicklung des Charakters, die Einbettung in die düstere Atmosphäre, das Herantasten an die Handlung. Die Autorin beglückt den Leser auch immer wieder mit ganz eigenen, herausragenden Wendungen und Schöpfungen, die einen immer weiter lesen lassen. Der Versuch der Verankerung in der Historie durch das Heranziehen konkreter Jahreszahlen und dem Ereignis der Mondlandung jedoch wirken sehr gewollt und konstruiert. Gardner hat keine Sciencefiction geschrieben, sondern eine Art “Past-fiction”, einen Nebenweg der Vergangenheit, den sie als Erbe des Naziregimes platziert; eine Geschichte also, die hätte passieren können, wenn der II. Weltkrieg anders geendet hätte. Dieser inhaltliche Bogen erschließt sich nicht zwangsläufig aus dem Text und setzt gute geschichtliche Kenntnisse des Lesers voraus. Anderenfalls bleibt das Konstrukt in der Schwebe und der Leser ist auf die Information auf dem Cover angewiesen. Die Botschaft ist nicht klar: Soll sich der Leser befragen, wie er oder sie gehandelt hätte? Doch dafür bietet der Protagonist zu wenig Identifikationsraum, ist die Distanz zum Geschehen durch die historische Dimension zu groß. Sollen wir dankbar des Ende des II. Weltkrieges gedenken? Dafür endet die Handlung wiederum zu früh; der Held hat noch vor der Mondlandung die Gefahr für künftige Generationen gebannt oder zumindest ein Ende der Schreckensherrschaft vorbereitet. Der Kunstgriff, Fiktion und abgeschlossene Vergangenheit zu einem beeindruckenden Werk mit nachhaltiger Wirkung zu schmieden, ist, bei allem Respekt für die Autorin, leider nicht befriedigend gelungen.

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Diese Rezension wurde verfasst von Bob.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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