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Autor*in
Rademacher, Nana
ISBN
978-3-473-40139-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
346
Verlag
Ravensburger
Gattung
Ort
Ravensburg
Jahr
2016
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,99 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Berlin im Jahre 2039 - nach sechs Jahren Krieg, der zunächst als externer und internationaler Kampf geführt worden ist, dann in einen Bürgerkrieg umschlug - sind die Stadt und ihre Bewohner psychisch und physisch am Ende. Die Webpolizei unterbindet soziale Vernetzungen, Soldaten gehen mit brutaler Härte gegen den sich bildenden Widerstand vor. Die fünfzehnjährige Anna kämpft nicht nur ums Überleben, sondern um einen Hoffnungsschimmer auf eine Zukunft in Frieden und Liebe.

Beurteilungstext

Die Autorin entwirft in ihrem Buch ein düsteres Szenarium, das sich in drei Teile gliedert. Den ersten Teil bilden die Einträge der fünfzehnjährigen Anna, die trotz des staatlichen Verbots einen Blog eingerichtet hat, um so aus ihrer erzwungenen ‚Insellage' heraus mit dem Rest der Welt, wenn es diese überhaupt noch gibt, zu kommunizieren. Auf diese Weise erhält der Leser einen sehr persönlichen Eindruck, wie es um die Menschen und das Leben in der Stadt steht - jeder kämpft ums nackte Überleben, die Lebensmittel sind knapp, das Wasser rationiert, die Erwachsenen wirken apathisch, hoffnungslos, und haben sich ihrem Schicksal ergeben. Anna ist diejenige in der Familie, die gemeinsam mit ihrer Freundin Luki loszieht, nach Ess- oder Tauschbarem sucht, für Wasser sorgt und somit die Rolle des Ernährers für ihre kleine Familie übernimmt. Die Mutter, schwer depressiv, hat sich längst aufgegeben, der Vater legt seine letzte Hoffnung in das Überleben seiner Tochter und verhilft ihr durch ‚Unterricht' zu Werten und Überlebensstrategien. Das Verhältnis zwischen der Tochter und den Eltern ist zwiespältig. Auf der einen Seite benötigt sie die Eltern als Wärmegarant in den eiskalten Nächten und sieht sich als akzeptierten Teil einer Gemeinschaft, auf der anderen Seite wirft sie der Elterngeneration vor, dass sie nichts gegen die Situation getan hat und tut, dass sie hinnimmt, ohne ein Zeichen von Widerstand zu zeigen. Anna möchte sich - gemäß ihrer Pubertät - abnabeln, aber sie hat keine Peergroup mehr, die den notwendigen Elternersatz übernehmen könnte. Daher ist die Bindung zu Luki, ihrer gleichaltrigen Freundin, fast schwesterlich eng. Doch den Blogeinträgen kann der Leser entnehmen, dass Anna durch die Ereignisse der letzten acht Jahre gelernt hat, Wichtiges in sich zu verschließen - Luki weiß nicht, in welcher Gefahr Anna durch ihren Blog schwebt und welche Gefahr von ihrer Freundin ausgeht. Als Ben in diesem Blog auftaucht, der ihr aus Hamburg schreibt und sie vor der WePo warnt, entstehen in Anna ‚gemischte' Gefühle - zum einen möchte sie Ben gerne persönlich kennenlernen, zum anderen misstraut sie ihm, weil sie nicht weiß, ob er ein Undercover der WePo ist. Nach einem halben Jahr kommt es tatsächlich zu einem geheimen Treffen zwischen beiden, das Glück dauert nur wenige Tage, dann ist Ben so spurlos verschwunden, wie er aufgetaucht war. Anna ahnt, dass Ben ihr gegenüber nicht ehrlich war, dass irgendetwas mit ihm nicht stimmt - aber sie wagt nicht, nachzuhaken, um ihr Zusammensein nicht zu gefährden.
Der Sommer 2040 bringt einen weiteren Rückschlag für die Familie - ihr kleiner Balkongarten, der die Überlebensbasis für die nächsten Monate bilden sollte, wird über Nacht von Unbekannten geplündert. Der Wunsch, aufs Land zu ziehen, scheitert an dem immer schlechter werdenden Zustand der Eltern. Wenige Tage vor Annas sechzehnten Geburtstag stirbt ihre Mutter an Erschöpfung und Hunger, kurz danach ihr Vater. Den letzten Blogeintrag verfasst Anna am 11. November, einen Tag vor ihrem Geburtstag, auf dem Dach ihres Hauses - plötzlich meldet sich Ben wieder.
Im zweiten Teil, der als zusammenhängende - über 250 Seiten reichende - Geschichte gestaltet ist, erfährt der Leser, wie Ben und Anna versuchen, ihr Ziel, ein Leben auf dem Land, zu realisieren. Doch Anna wird immer mehr bewusst, dass Ben nicht derjenige ist, den er ihr bei ihrem ersten Zusammentreffen gezeichnet hat. Ben hat Annas Board benutzt, um das System der WePo zu hacken, woraufhin diese ihren Aufenthaltsort herausfindet. Eine gefährliche Flucht beginnt, die die beiden Jugendlichen nicht nur in den Untergrund Berlins führt, wo sich ein Zentrum des Widerstandes etabliert hat, sondern auch Anna, nachdem beide in die Hände von Soldaten gefallen sind, in ein Mädchenheim und Ben als Zwangsarbeiter in die ‚Fabrik', dem Herz der militanten Regierung. Allein der Wunsch, wieder mit Ben, über dessen Schicksal sie nur Vermutungen anstellen kann, zusammenzukommen, bringt Anna dazu, die Grausamkeiten des Aufsichtspersonals im Heim zu ertragen. Als eines Tages Santje, die kleine Flötenspielerin und einstiger Schützling von Anna und Luki, in das Heim gebracht wird, steht ihr Entschluss, mit dem Mädchen zu fliehen, fest. Erneut beginnt ein Überlebenskampf unter extremen Bedingungen, doch für Anna ist klar, dass sie alles wagen wird, um ihr Ziel zu erreichen.
Der dritte Teil des Buches umfasst nur wenige Zeilen ihres Blogs, die von Annas sechzehntem Geburtstag sprechen. Der Leser bleibt über den Ausgang der Geschichte im Unklaren.
Der fiktionale Inhalt des Buches scheint angesichts der aktuellen politischen Situationen gar nicht so weit von der Realität entfernt zu sein. Es ist sicherlich kein Zufall, dass zwischen den schrecklichen Ereignissen des Zweiten Weltkriegs und denen des Romans nur knapp ein Jahrhundert liegt, dass die Orte identisch sind. Wer sich mit der Situation Berlins im und nach dem Zweiten Weltkrieg befasst hat, kann Parallelen erkennen. Aber gibt es nicht inzwischen viele Städte, in denen Menschen unter extremen Bedingungen zwischen Bombenhagel und Gewehrschüssen ausharren müssen oder dahinvegetieren? Die Autorin hat mit einer klaren Sprache den Wunsch von Jugendlichen gezeichnet, deren Jugend keine mehr ist, nach Freiheit, Liebe, Unabhängigkeit, nach einem Frieden, der, mag er noch so brüchig sein, als Licht am Horizont in der Dunkelheit des täglichen Grauens erahnt wird.
Gleichzeitig wird dem Leser bewusst, wie schwer es den Menschen in einer solchen Lage fällt, Vertrauen zu fassen oder offen zueinander zu sein, weil jedes Mit-Wissen eine Gefahr in sich birgt. Anna setzt ihr Leben für Ben aufs Spiel, weil sie hofft, dass in ihrem Zusammensein die Angst, der Krieg und all das Schreckliche verschwinden. Das ist ihre Motivation, die sie am Leben hält - etwas Anderes hat sich nicht mehr, diejenigen, die ihr etwas bedeutet haben, sind tot.
Das Buch wirft viele Fragen auf, nicht nur durch sein offenes Ende, es kritisiert die Kurzsichtigkeit der Elterngeneration, die sich nicht um die Zukunft ihrer Kinder und um einen Weltfrieden gekümmert hat, es lässt die Frage offen, ob die Jugend, wäre sie an der Stelle der Eltern, weitsichtiger (gewesen) wäre. Mag die Namensgleichheit der Protagonisten zu Peter Härtlings ‚Klassiker' "Ben liebt Anna" gewollt oder zufällig sein, so ist beiden Werken die Liebe und deren Bewahren gemeinsam. Sich mit deren Gestaltung unter extremen Bedingungen auseinanderzusetzen, macht dieses Buch empfehlenswert.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von magic.
Veröffentlicht am 01.07.2016

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