Willkommen im Haus der Tiere

Autor*in
Oleynikov, Igor
ISBN
978-3-7373-5740-1
Übersetzer*in
Pöhlmann, Christiane
Ori. Sprache
Russisch
Illustrator*in
Oleynikov, Igor
Seitenanzahl
65
Verlag
FISCHER KJB Sauerländer Duden
Gattung
Bilderbuch
Ort
Frankfurt am Main
Jahr
2022
Lesealter
6-7 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüre
Preis
18,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Maus renoviert ein verfallenes Haus und lässt nacheinander sechs Tiere, die ein Obdach brauchen, bei sich mitwohnen. Als der Wolf auch aufgenommen wird, breitet er sich über alle Trennwände für die Einzelzimmer hinweg aus und zerstört sie. Die Klagen der von ihm vertriebenen Einwohner werden von dem Bär gehört, der mit seinem Schaufelbagger das Haus abreißt und damit auch den Wolf vertreibt. Aber die Maus ist entschlossen, ein neues Haus zu bauen.

Beurteilungstext

Form
Text
Oleynikov hat das russische Märchen „Teremok“ illustriert in der Form einer Reihungsgeschichte mit immer weiter dazu tretenden Elementen, die zusammen jedes Mal wiederholt werden. Dadurch werden eine Erwartungshaltung und Spannung aufgebaut, die mit einem unerwarteten Gag aufgelöst werden.
Das Motiv erinnert an das russische Märchen vom im Wald liegengebliebenen Handschuh, in den bei Schnee und Eis immer mehr frierende Tiere hineinkriechen, schließlich sogar der große dicke Bär. Aber als die Maus noch hineinkriecht, platzt der Handschuh. In anderer Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten mit dem englischen Märchen vom Wolf, der das Haus der drei kleinen Schweinchen immer wieder umpustet. Das ist der böse Wolf der Märchentradition.
Der gereimte Text beschränkt sich auf wenige Zeilen jeweils am unteren Rand der Seite. Durch die Übersetzung aus dem Russischen entstehen ungewöhnliche Namen für die Tiere.

Illustrationen
In dem Buch mit quadratischem Riesenformat wird der Großteil der Fläche von den Bildern eingenommen, die manchmal als Panorama über die ganze Doppelseite gehen, meist je eine Seite einnehmen. Immer wieder schieben sich Seiten mit 2 bis 6 rechteckigen Panels dazwischen, die den Fortlauf eines Geschehens in schwarz-weißer Zeichnung verfolgen. Die anderen Bilder sind in düsteren, gedeckten Farben und Grautönen gehalten. Oleynikov benutzt die Aquatinta-Drucktechnik, d. h. rund um die gestaltenden Striche gibt es krümelige Wolken, die der Zeichnung einen unbestimmten Reiz geben.
Wir haben hier ein Künstlerbilderbuch, weit weg vom Mainstream. Hier gibt es keine rundliche Gestaltung nach Kindchenschema, sondern die Darstellung der Tiere ist ungewöhnlich, skurril bis bizarr. Die Bilder von Maus, Eidechse, Frosch, Eichhörnchen, Fuchs und Hase bewegen sich völlig außerhalb üblicher Kinderbuchkonventionen. Die Gesichter von Eidechse und Frosch sehen frontal gesehen aus wie die von Marsmenschen, die Ohren des Hasen sind unter einem Cap immer heruntergeklappt, was ihn unkenntlich macht. Weitere Figuren in der Szene sind undefinierbar. Wir haben keine gemütvolle, grüne Mittelgebirgslandschaft. Sondern das Haus der Maus steht einzeln vor der menschenverachtenden Kulisse sozialistischer Einheitshochhäuser. Das Haus ist teilweise abgedeckt und hat ein seltsames Türmchen, das an eine Kirche erinnert. Dann gibt es da ein Erbsenfeld in blühendem und in abgeerntetem Zustand im Schneetreiben, einen Schrottplatz, eine Bahnhofshalle, ein nächtliches weites Schneefeld mit einer von Glatteis gleißenden Straße; dann das karge Innere des Hauses, das durch die Heimwerkerarbeit der Tiere mit wenigen Mitteln vom Schrottplatz gemütlich gemacht wird. Wie sie das Erdgeschoss durch Privatheit schaffende Trennwände aufgeteilt haben, zeigt Oleynikov von oben in ungewöhnlicher Aufsicht.
Das Draußen war für die schutzsuchenden Tiere unwirtlich. Die reisende Eidechse scheint auf dem Bahnhof nicht abgeholt worden zu sein. Der Frosch mit Minijob scheint von dem Arbeits- oder Sozialamt abgewiesen zu sein. Das malende Künstler-Eichhörnchen hat sein Atelier durch einen Kabelbrand verloren. Der archäologische Wissenschafts-Hase wird von seinen zufrieden-satten Eltern von der Schwelle gejagt und schläft unter Zeitungen auf der Parkbank, die Füchsin singt und spielt Bandoneon in der U-Bahn und bittet um Spenden. Alle diese Abgehängten und von der Gesellschaft Ausgestoßenen werden von der patenten Maus aufgenommen und werden zu einer fröhlichen Bedarfsgemeinschaft, die sich von den von der Maus gesammelten Schoten und Erbsen ernährt.
Diese positive Erzählung wird gestört und umgekehrt durch den asozialen Wolf, der in der U-Bahn einem Wildschwein das Portemonnaie aus der Gesäßtasche zieht, vor Verfolgern flieht und am Haus der Maus anklopft. Alle Bewohner sagen: „Komm herein“. Aber er dankt es ihnen nicht, sondern drängt sie aus dem Haus. Bis hierher folgt die Erzählung einem Märchen- und Fabelmuster. Mit dem Auftreten des großen dicken als gutmütig geltenden Bären erwarten die geübten Märchenkenner, dass er den Bedrängten zu Hilfe kommt und es ein glückliches Ende nimmt. Aber der Bär erscheint nicht in Persona im Bild, sondern stellvertretend durch einen mächtigen schwarzen SUV mit dem russischen Bären als Plakette der Automarke am Kühlergrill. Von den kleinen Tieren wird er in bedrohlicher Untersicht gesehen. Der Bär ist der Hausbesitzer und verjagt zwar den Wolf, aber indem er das Haus mit einem übermächtig großen Schaufelbagger, wie sie im Braunkohlentagebau eingesetzt werden, zerstört. Das letzte Bild zeigt den Zusammenhalt der Tiere als geschlossene Gruppe. Und die Maus als ihre Stimmführerin denkt/sagt, dass sie ein neues Haus bauen werden.

Botschaft
Die Botschaft wird allein durch die Bilder transportiert, von denen jede Einzelheit interpretiert werden kann. Die Erzählung ist als Parabel auf die Entwicklung eines autoritären Staates zu lesen. Der Bedarf der Kleinen wurde dort zunehmend vernachlässigt. Aber sie stehen zusammen in solidarischer Hilfe. Geschädigt wird ihre Gemeinschaftlichkeit durch die Bürokratie, die Herzlosigkeit der wohlhabenden Arrivierten, durch Kriminelle und die zermalmende Macht des Kapitals. Diese trüben Zustände vermitteln sich atmosphärisch durch die düstere Szenerie in dunklen Farben und die Kälte vermittelnden Winterszenen. Dennoch lassen die Betroffenen sich nicht unterkriegen. Sie vertreten den unbeugsamen Widerstand der verbliebenen Zivilgesellschaft. Wir geben nicht auf, ist ihre hoffnungsvolle Botschaft.

Vermittlung
Die äußere kinderreimartige Form, der kurze Text und der hohe Bildanteil sollten nicht den Schluss zulassen, dass dies ein Buch für die jüngeren Vorschulkinder sei.
Anthropomorphisierte Tiere, bei denen die natürlichen Größenverhältnisse außer Kraft gesetzt sind, sind Kindern bereits aus Märchen und Bilderbuch bekannt. Kinder werden Spaß daran haben, den vielen erzählerischen Details zu folgen und im Text nicht ausgesprochene Zusammenhänge zu vermuten. Aber die Figuren und das Umfeld sind für sie oft uneindeutig zuzuordnen und einzuordnen. Auf jeden Fall erschließt sich ihnen der Grundtenor: Hilfsbedürftige werden aufgenommen; durch bedrohliche Gewalt lässt man sich nicht entmutigen.
Aber der Gehalt der sprechenden Einzelheiten erschließt sich erst Älteren. Erst die erwachsenen Vermittelnden sehen die politischen Parallelen. Als Menschen gekleidete und agierende Tiere als Transportmittel einer ironischen politischen und Gesellschaftskritik, um die staatliche Zensur zu unterlaufen, hatten wir schon im England und Frankreich des 19. Jahrhunderts. In diesem Buch gibt es aber keinen Humor; dem Autor ist seine Anklage unter dem Mantel des Märchens bitterernst. Er veröffentlichte das vorliegende Bilderbuch 2018 in Russland.

Kein leichtes Bilderbuch zum schnellen Konsumieren, aber es lohnt sich, es in der Gruppe zu erarbeiten.

Zum Autor / Illustrator
Oleynikov wurde 1953 in Ljuberzy in der Sowjetunion geboren.
Er „arbeitete nach Abschluss seines Chemiestudiums u. a. am GSE-Giprokauchuk, einem renommierten Wissenschaftsinstitut zur Erforschung von synthetischem Gummi, hat aber nie ein Kunst- oder Designstudium absolviert. Seit den 1970er Jahren war er als Designer an russischen Comic-Produktionen beteiligt. Er illustrierte Kindermagazine, Märchen, Kinderbuchfassungen der Bibel, Shakespeare-Stücke oder Geschichten aus dem Artussagenkreis sowie von russischen Klassikern wie Gogol, Puschkin oder Brodsky.
Oleinikow erhielt mehrere internationale Preise. 2018 wurde er mit dem Hans Christian Andersen Preis des IBBY ausgezeichnet. In Russland sind bisher über achtzig Bücher mit seinen Illustrationen erschienen.“ (Wikipedia)
2021/22 zeigte die Internationale Jugendbibliothek in der Blutenburg eine Ausstellung mit seinen Werken.

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Diese Rezension wurde verfasst von Geralde Schmidt-Dumont; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 31.01.2024