Wenn wir doch nur Löwen wären

Autor*in
Baugstø, Line
ISBN
978-3-903422-04-9
Übersetzer*in
Donat, Andreas
Ori. Sprache
Norwegisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
144
Verlag
luftschacht
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Wien
Jahr
2022
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
KlassenlektüreBücherei
Preis
16,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Wie ist es eigentlich, ein Mädchen oder ein Junge zu sein? Oder vielleicht gar nicht zu wissen, welche Kategorie passt? Es wird heutzutage viel über geschlechtliche Identität geschrieben und gesprochen, vor allem in dem Medien und in konfliktbeladenen Debatten. Deswegen braucht es mehr Erzählungen wie diese, um die Individuen in den Mittelpunkt zu rücken - mehr Wissen als abstrakte Begriffsdefinitionen.

Beurteilungstext

Aus meiner Sicht kann die Erzählung zum Teil als Novelle betrachtet werden. Dafür spricht formell die Kürze (144 Seiten), aber vor allem inhaltlich die Abgrenzbarkeit der dargestellten Handlung. Es geht um ein paar Wochen in einer norwegischen Schule. Im Fokus stehen vor allem die Mädchen der 7. Klasse und deren Beziehungen zueinander. In diesem Teil der Gesellschaft kommt es durch Leona, eine neue Mitschülerin, zu einer Veränderung. Diese Veränderung lässt sich auch als Krise fassen, weil sie die bestehende Konstellation in Frage stellt und dann dauerhaft verändert.
Die Erzählung schildert ein Einzelschicksal, eine besondere Begebenheit in einer Schulklasse, aber möchte dabei zum Nachdenken anregen. Leona ist, wie sich später herausstellen wird, ein Mädchen, das im Körper eines Jungen steckt. Somit führt die Erzählung anschaulich vor, wie eine "Transgender-Identität" in der Realität einer 7. Klasse ankommt.
Die Klassenstufe ist nicht zufällig gewählt. Die Jugendlichen sind mitten in der Pubertät. Sie sind in einer Transformationsphase, wo sie sich für sich und miteinander auf der Suche nach ihrer geschlechtlichen Identität begeben. Darüber hinaus ist es eine Zeit der Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen, wo vieles in Frage steht. In der Klasse, die bisher von einer strikten Zweiteilung der Geschlechter ausging und sich eher an medialen Stereotypen orientierte, entzündet sich an Leona folgerichtig ein Konflikt. Allerdings ist es nicht so, dass sie ihn mitbringt oder in die Gruppe hineinträgt. Leona wirkt eher wie ein Katalysator. Sie bringt die konfliktären Strukturen der "natürlichen" Herausbildung geschlechtlicher Identitäten ans Licht: Mädchen gegen Jungs, Jungs gegen Jungs, Mädchen gegen Mädchen usw. Oft genug ist die Phase der Erwachsenwerdung auch in der Realität mit Diskriminierung verbunden.
Ein anschauliches Beispiel dafür bietet Malin, die Ich-Erzählerin. In die geschlechtlichen Erwartungsmuster der anderen Mädchen scheint sie mit ihrem Aussehen oder Verhalten bereits vor Leonas Ankunft schon nicht passen. Ihre Haare seien zu kurz und die Brüste zu klein. Dann findet sie Gummitwist als Pausenbeschäftigung nicht kindisch und würde am liebsten Schlagzeug wie ein Junge spielen. Die Geschlechterdifferenzierung wird hier auf mehreren Ebenen verhandelt und es könnte lohnenswert sein, die Figuren mit dem "Gingerbread-Modell" zu analysieren, das zwischen Geschlechtsidentität (geistigem Konstrukt), Erscheinung (Aussehen/Ausdruck), biologischen Merkmalen, sexueller und/oder romantischer Anziehung unterscheidet.
Malin steht an der Schwelle zur Außenseiterin und darum wünscht sie sich eine beste Freundin, eine, die auf ihrer Seite steht und bei der sie authentisch sein kann. Mit Leona bietet sich ihr eine Chance, die lang gesuchte Freundin zu finden, aber dann auch, ihren Außenseiter-Status zu verlieren. Malin könnte mit Leona als neuer Außenseiter(in) plötzlich dazugehören. Es sind eigentlich zwei verbundene Fragen, die im Zusammenhang mit Außenseitern häufig diskutiert werden. Was kostet es das Individuum Außenseiter oder Außenseiterin zu sein und welcher Preis wäre zu zahlen, wenn der Status gegen die Normalität getauscht werden könnte?
Die Erzählung legt weiterhin nahe, dass die Frage nach der geschlechtlichen Idenität nur ein Teil des Entwicklungsprozesses ist. Sie ist einer von vielen Lebensbereichen, in dem sich die Jugendlichen zurechtfinden und positionieren müssen. Ebenso wichtig kann eine politische Haltung, die Suche nach einem passenden Beruf oder Hobby sein. Insgesamt tragen dann die verschiedenen Entwicklungsfelder zur Herausbildung eines Ethos bei. Es geht eigentlich nicht darum, für oder gegen "trans-gender", sondern für oder gegen das Individuum zu sein. Damit zeigt die Erzählung, dass Geschlecht eine soziale Konstruktion ist, die zum Teil durch die Anpassung an Stereotype reproduziert wird, aber durch individuelle Haltungen verändert werden kann.
Die Erzählung ist ein gelungener Beitrag zu den aktuellen Debatten, die zudem nicht aufgesetzt wirkt, sondern sich viel Zeit für die individuelle Perspektive nimmt. Die Vielfalt der Geschlechter braucht seine Zeit sowie geistige und seelische Kraft, um Akzeptanz zu finden. Somit lässt sich die Erzählung als Transmissionsriemen verstehen, der einer komplexen Theorie hilft, in Kopf und Herz der Leser und Leserinnen anzukommen.

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Diese Rezension wurde verfasst von Thomas Bitterlich; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 06.05.2023