Was, wenn wir genug sind?

Autor*in
Stewart, Erin
ISBN
978-3-522-50782-0
Übersetzer*in
Köbele, Ulrike
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
464
Verlag
Thienemann
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Stuttgart/Wien
Jahr
2022
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
FreizeitlektüreKlassenlektüreBücherei
Preis
18,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Lily lebt mit zwei Schwestern, dem Vater und der neuen Partnerin zusammen. Den Tod der Mutter haben alle anders verkraftet. Lilys Begabungen, u.a. zum Schreiben, machen ein Stipendium möglich. Nach einem Suizidversuch der Schwester steht den letzten Prüfungen im Weg, dass sie sich nun noch weniger auf ihre Aufgaben konzentrieren kann. Im Kunstprojekt lernt sie Micah kennen, der mit der Schwester in einer Therapieeinrichtung war. Er erkennt ihre Unsicherheiten und das gemeinsame Potential.

Beurteilungstext

Die enge Verbundenheit der älteren Schwestern wird jäh unterbrochen, weil Lily ihrer Schwester Alice nach einem Suizidversuch nicht helfen kann, als diese sie um Hilfe bittet. Während der folgenden Zeit in der Therapieeinrichtung bricht ihr Kontakt ganz ab. Die anderen Familienmitglieder besuchen Alice, die doch immer als die Stärkere schien, die Mutigere und Quirligere. Warum hat sie das getan und warum war Lily nicht fähig, zu helfen und schafft es bis jetzt nicht, sie zu besuchen? Auch die Familie ist verunsichert.

Lilly ist mit diesen und ähnlichen zweifelnden Gedanken immer wieder konfrontiert, obwohl die Schule wie normal weiter geht. Ihr bleibt vor allem Sam, eine begabte Geigenspielerin, als ihre wichtigste Freundin. Nur diese weiß auch, dass die tolle Alice nicht auswärts studiert, sondern krank ist.
Die folgende Zusammenfassung liest sich u.U. wie ein sich steigernder Albtraum, in dem die Protagonisten vor den Augen der LeserInnen unaufhaltsam ins Dunkle stürzen. Doch der Text erzählt die Begebenheiten so, wie sie sicher von vielen Heranwachsenden ähnlich auch erlebt werden. Erst gegen Ende des Buches ist die vorangestellte Triggerwarnung berechtigt. Bis dahin wird von eher bekannten Schulsituationen, von Oberflächlichkeit in den meisten Begegnungen, von vordergründigem Streben nach Anerkennung, vom Gefühl des Alleinseins geschrieben und von Mobbing, das allerdings oft unerfreulich ist oder erschreckend.
In Lilys Kopf kreisen unaufhörlich die Gedanken um ihr Selbstgefühl, ihre Schuld, das Verschweigen und vor allem die Überlegungen, dass sie allen nicht genug sein könnte. Sie müsste anders sein. Sie möchte auch anders sein. Sie müsste gerade jetzt ihre Gedichte schreiben und den Wettkampf gewinnen, für den sie nur halbherzig trainieren kann.
Im Druckbild sind diese Gedanken unterschiedlich hervorgehoben, durchstrichen oder durch andere grafische Setzformen gestaltet. Manchmal erfindet sie für ihre Gefühle das "LogoLilys Wort des Tages", das sie meist dem Lateinischen oder Griechischen entlehnt.
Ihre Grübeleien werden außerdem durch den Abdruck von Online -Dialogen mit Micah (unter dem Pseudonym "Hundertsechzig-Morgen-Wald") und dem veröffentlichten Chat von "Ridgeline-Underground", einer Art Plattform der Schule, dokumentiert.

Da alle von Lilys Begabungen überzeugt sind, bemerken Mitschüler und auch die Lehrer nicht, dass sie große Probleme hat und die Angst sie oft überfällt, tatsächlich - so wie ihre Schwester - "verrückt" zu werden. Sie bekommen leider auch wenig vom Mobbingverhalten einer kleinen Gruppe mit. Jede und Jeder ist mit seinen Aufgaben beschäftigt, die zum Ziel haben, den Abschluss zu erhalten. Warum diese unangenehmen Mitschüler überhaupt solch eine Macht haben, wird nur indirekt angedeutet und findet leider auch keine Auflösung.
Lilly ist ein Gespräch mit dem Vater nicht möglich, der auf sie zählt und glaubt, sich besonders um Alice kümmern zu müssen. Für die Kleinste, Margot, will Lily nun die starke Schwester sein. Sie will vor ihr dieses Bild aufrecht erhalten.

Ein neues Projekt eines Lehrers und einer Lehrerin scheint vielversprechend und anregend. Im Kunst- und Literaturkurs der Schule bringen sie Schüler als Partner zusammen, um sich ein gemeinsames Thema zu suchen. In der Ausarbeitung des Themas sollen sie sich gegenseitig künstlerisch inspirieren. Es ist ein offener Wettbewerb. Sollten sie jedoch gewinnen, wäre zumindest für Lily das Stipendium gewiss.
Der ihr zugewiesene Partner, Micah, wird in der Schule von einer Gruppe Jungen immer wieder neu aufs Übelste gemoppt, weil bekannt ist, dass er aus einer Therapieeinrichtung stammt und sich einmal umbringen wollte. Er ist neu hier. Er bekommt diese Chance nur als ein begabter Zeichner und Maler.
Micah hat Alice in der Einrichtung kennengelernt und weiß, dass sie Lilys Schwester ist. Er mag und versteht sie. Er versucht zu intervenieren, als Alice nach Hause darf und keiner der Familie genau zu wissen scheint, wie man sich ihr gegenüber verhalten sollte.
Er ist es auch, der sehr schnell die Blockaden von Lily erkennt und den ersten Schritt macht zu mehreren öffentlichen Schreibprojekten, deren Ideen letztlich aber von Lily stammen. Dabei nutzen sie die Grenzen des noch Erlaubten aus und vermeiden Beschädigungen. Sie werden anonym bekannt.
Alle fragen sich, wer Zeichnungen und Texte verfasst hat, die zum Mitschreiben auffordern. Ebenso anonym trauen sich nun auch andere MitschülerInnen und schreiben an den Texten weiter. Sie antworten oder ergänzen die ehrlichen Gedichte, die von Ängsten, Anpassung und Überforderung erzählen.

Für den Gewinn des Wettbewerbs stehen die Chancen gut, bis plötzlich 'Sachbeschädigung' im Raum steht. Lily, Micah und jetzt auch Alice waren aber gar nicht beteiligt. Sie ahnen, wer dahinter stecken könnte. Micah nimmt die Schuld der Schäden auf sich.

Alle drei verstehen sich inzwischen sehr gut. Micah und Lily sind sich auf sehr unsichere Weise langsam etwas näher gekommen. Nun ist die fragile Verbindung für alle gefährdet.
Micah muss die Schule verlassen, taucht unter und versinkt wieder in depressive Phasen.
Alice setzt ihre Medikamente ab, um ihre alte Persönlichkeit wieder spüren zu können.
Lily versucht, mit Tabletten einsatzfähig zu bleiben oder zur Ruhe zu kommen, denn ihr Wettbewerbsbeitrag wird nun auch nicht anerkannt. Sie verpasst Trainings und schließlich auch die Möglichkeit, ein Stipendium zu erhalten. Immerhin kann sie den zweiten Versuch Alices, sich in einer manischen Phase zu schädigen, aufhalten.
Nun endlich wird auch Lily klar, dass sie selbst Hilfe benötigt. Therapien der beiden Mädchen folgen unter professioneller und überzeugender Anleitung. Die Familie steht fest auf ihrer Seite, Micah von außen. Er wird vom Vater endlich akzeptiert.
Nach längerer Zeit der Ungewissheit stehen die Mädchen schließlich mit unterschiedlichen Projekten auf der Bühne. Die Kunstgruppe um Micah unterstützt ihre Wege in die Öffentlichkeit. Vater und Partnerin, die begleitenden Lehrer sind im Zuschauerraum und es gibt einen aussichtsreichen Kontakt zu einer Literaturdozentin.

Stewart erzählt die Geschichte empathisch, sie entwirft beeindruckende Naturbeschreibungen und Metaphern. Für die Szenen, die am Ozean spielen und für die Umschreibung der Gefühlswelten findet sie eindrückliche Worte. Sie weiß, worüber sie schreibt. Es geht nicht um Effekte und Vordergründiges, auch wenn sie das vordergründig Gedachte aufdeckt. Manche Handlungsmotive klären sich.
Eingewoben in die Handlung sind wichtige zusätzliche Hinweise, die über die Erzählung hinausführen. Es lohnt sich, sie weiterzuverfolgen.
Beispiele sind u.a.:
- die Autorin Sylvia Plath mit der Veröffentlichung "Die Glasglocke",
- der Maler Bob Ross, dessen Sendungen über Youtube aufzufinden sind,
- Schreibimpulse zum kreativen Schreiben (u.a. WIFYR= WRITING AND ILLUSTRATION for young readers),
- der Klassiker von A. A. Milne „PU der Bär“, auf den sich das Pseudonym von Micah bezieht.
- Erklärung von Begriffen der jetzigen Jugendsprache,
- Hinweise auf die Bedeutung der bildenden Kunst und kreativen Tuns

Anmerkung

Klassenlektüre
Projektunterricht

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Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 14.01.2024