Unser wildes Blut

Autor*in
ISBN
978-3-570-16383-2
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
288
Verlag
Gattung
Ort
München
Jahr
2016
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der achtzehnjährige Alexander verliebt sich unsterblich in die siebzehnjährige Aysel, die vor wenigen Wochen aus dem Ruhrgebiet nach Stuttgart gezogen ist und mit ihrem Zwillingsbruder Ilhan Alexanders Klasse besucht. Aysel empfindet diese Liebe ebenfalls, aber sie weiß, dass ihr als Tochter eines konservativen muslimischen Elternhauses der Tod droht, wenn sie Schande über ihre Familie brächte. Ihre Liebe scheint chancen- und hoffnungslos, aber Alexander gibt nicht auf.

Beurteilungstext

Die Geschichte wird aus Sicht Alexanders und Ilhans wiedergegeben. Alexander, der beim Schulfest durch Zufall Aysel unvermittelt gegenübersteht, die ihr Kopftuch in der Hand trägt, ist von deren lockerem und sympathischem Auftreten völlig überrascht, und schnell entsteht eine tiefe Vertrautheit. Aysel kommt dennoch sofort auf die Vergeblichkeit einer Beziehung zwischen ihnen beiden zu sprechen - einem Christen und einer strenggläubig erzogenen Muslimin. Bereits hier thematisiert Aysel, wie viele junge muslimische Paare ohne jegliche Liebe zusammenbleiben, weil sie ihrer Familie verpflichtet sind, während Alex den ‚Beziehungstourismus' vieler deutscher Paare kritisiert, die nie ‚das Passende' für sich finden werden.
Alex startet mehrere Anläufe, um das zarte Pflänzchen der Liebe fortzuführen, es zu hegen und wachsen zu lassen. Aber Aysel wirkt entschieden ablehnend, nur ab und an erhält er digitale Hinweise von ihr, dass er dem Mädchen nicht gleichgültig ist. Aysel weiß, was ihr droht, sollte sie sich auf eine Beziehung mit Alex einlassen. Die Entscheidung zwischen ihrem Herzen und der Verpflichtung gegenüber ihrer Familie belastet sie extrem, sie weiß selbst nicht, was sie tun soll. Ihre deutsche Freundin Helena rät ihr, sich nach dem Herzen zu richten, aber Helena ahnt, dass dies für Aysel den Tod oder die vollständige Verbannung aus der Familie bedeutet.
Die Reaktion der Familie wird im Verhalten von Ilhan, Aysels Zwillingsbruder, dem Leser vermittelt. Das erste Kapitel, das seinen Namen trägt, zeichnet ihn als einen unsicheren jungen Mann, der zur Stärkung seines Egos Anschluss an Said sucht, den Obermacker und Macho mit arabischen Wurzeln, dem es nur um das Aufreißen von deutschen Mädchen geht, um hinterher sie als Huren zu beschimpfen. Ilhan soll auf dem Schulfest beweisen, was an Männlichkeit in ihm steckt, und das Mädchen, das Said ihm als "leichtes Opfer mit einfältigem Gesicht, doch geiler Oberweite" (S.19) empfiehlt, ‚anmachen'. Kaum hat er die ‚coolen Jungs' verlassen, fühlt sich Ilhan überhaupt nicht überlegen, eher schüchtern und unbeholfen. Die erste Annäherung an Emilie, so ist der Name des Mädchens, das auf dem Fest Backwaren verkauft, gestaltet sich zunächst als Kauf eines Gebäckstücks, völlig linkisch fragt er nach ihrem Namen. Dieser Widerspruch zwischen Unsicherheit, aufkeimenden Gefühlen und einem krampfhaften Betonen der eigenen männlichen Überlegenheit bildet den roten Faden in Ilhans Verhalten - sowohl Emilie als auch Aysel gegenüber. Als er von Emilie, deren Cousin Alex ist, erfährt, dass Aysel und Alex ‚etwas laufen haben', entwickelt er einen Überwachungs- und Nachforschungsmechanismus, der nicht nur seinesgleichen sucht, sondern für den Außenstehenden krankhaft wirkt. Da sein Bruder Yasin, dem er seine Befürchtungen mitteilt, die Hilfe und Rettung im Gebet sucht, sieht Ilhan es als seine Aufgabe, die Reinheit seiner Schwester und die Ehre der Familie zu bewahren. Gleichzeitig hat er keine Skrupel, Emilie zu verführen, ihr falsche Versprechungen zu machen und später mit seinen Kumpels über die Naivität der deutschen Mädchen zu lästern. Denn für ihn steht es fest, dass er nur ein ‚reines' Mädchen zur Frau nimmt, notfalls ohne Liebesgefühle.
Der Leser erlebt in den sich abwechselnden Perspektiven von Alexander und Ilhan mit, welche emotionalen Höhen und Tiefen Alexander durchlebt, mit welch großer Sensibilität er immer wieder versucht, sich Aysel zu nähern, ihre Zurückhaltung zu verstehen, die Gemeinsamkeiten mit ihr zu besprechen. Seine Geduld und sein Verständnis werden auf eine harte Probe gestellte. Als er eines Tages von Ilhan, der Said und dessen Jungs zu Hilfe nimmt, zusammengeschlagen wird, verändert sich seine Haltung - er tritt selbstbewusst auf, wirkt erwachsen und erklärt Ilhan zu seinem Feind, den er in den Unterrichtsstunden beobachtet, studiert - zwei Generäle kurz vor dem Angriff.
Doch den entscheidenden Zug führen Aysels Eltern durch - sie arrangieren einen zukünftigen Ehemann, Selim aus dem Ruhrgebiet, der in Bälde das Mädchen heiraten soll, das sie von der Schule abmelden, damit es zu keinen weiteren Kontakten mit Alex oder Aysels Freundin Helena kommen kann. Alex bereitet alles für eine Flucht vor - sein letztes Angebot für eine fast schon aufgegebene Liebe - noch immer kämpft Aysel mit sich und dem Bewusstsein, dass sie mit diesem Schritt alles verlieren wird, dass sie sich für die Rache ‚freigibt'. Erst als sie aus einem Versteck die Auseinandersetzung zwischen Alex und dem plötzlich aufgetauchten Ilhan miterlebt, fällt ihre Entscheidung. Ilhans schmähenden Worten setzt Alex lange Zeit nichts entgegen, aber dann fasst er seine Wut über Ilhans Verhalten gegenüber Emilie und seine Enttäuschung, dass er nie die Gelegenheit bekommen sollte, die Reinheit und Ehrlichkeit seiner Liebe zu Aysel beweisen zu können, in klare Worte, die keinen Widerspruch dulden.
Die Flucht bietet keine Sicherheit, denn die Familie, insbesondere Ilhan, muss die Familienehre wiederherstellen. Die letzten Minuten erlebt der Leser, dem die Geschichte als Rückblenden der beiden männlichen Protagonisten präsentiert wird - gewissermaßen in ‚Echtzeit': Ilhan hat auf illegale Weise den Wohnort von Alex und Aysel herausgefunden und trifft dort - wenig später auch der Rest der Familie - ein, um das zu tun, was zur Ehrenrettung der Familie notwendig ist. Die beiden Verfolgten sind nicht unvorbereitet - ihre Entscheidung haben sie bereits getroffen. Der Schluss bleibt für den Leser offen und somit auch die Frage, ob es für die jungen Leuten eine Zukunft gibt.
Das Buch überzeugt durch einen sehr schönen, emotional dicht gewebten Sprachstil, der sowohl die Wärme der Liebe und Leidenschaft wie auch die Kälte der Verzweiflung und des Hasses deutlich und bewegend zum Ausdruck bringt. Die Wiedergabe der Gedanken beider Protagonisten polarisiert, die Versuchung, sich als Leser auf Alexanders Seite als Unterstützer zu stellen und Ilhan als oberflächlichen Macho mit zweierlei Wertemaßstäben abzutun, ist groß. Doch dies wäre zu einfach, denn ist nicht die Frage berechtigt, warum Alexander an seiner Liebe zu Aysel mit allen Mitteln festhält und immer wieder neue Versuche der Annäherung unternimmt, obwohl er weiß, welche Last er damit seiner Geliebten aufbürdet, welchen Schaden und Verlust er ihr zufügt?
Diese Romeo-und-Julia-Geschichte, eingebettet in das Zusammenprallen religiös völlig verschieden orientierter Elternhäuser, bietet eine Fülle von Ansatzpunkten, die es zu besprechen gilt, deren Hintergründe untersucht und für die Lösungen gefunden werden müssen - nicht nur auf der Ebene einer Klasse, einer Gemeinde, sondern auch im nationalen wie im internationalen Sinne. Daher finde ich das Buch sehr empfehlenswert, wobei ich zu einer fächerübergreifenden Erarbeitung rate.

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Diese Rezension wurde verfasst von magic.
Veröffentlicht am 01.07.2016