Über den Dächern von Jerusalem

Autor*in
Reumschüssel, Anja
ISBN
978-3-551-58514-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
336
Verlag
Carlsen
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Hamburg
Jahr
2023
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die 15-jährige Tessa hat das KZ überlebt und ist illegal nach Palästina eingereist, um ihren Vater zu finden. Mo ist ein arabischer Junge aus Jerusalem. Sein Vater ist bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen. Zwei gänzlich unterschiedliche jungen Menschen, die sich dennoch näher kommen, aber durch die politischen Wirren wieder aus den Augen verlieren. Für immer? Zwei Generationen später erleben Anat und Karim ein ähnliches Schicksal, das irgendwie mit dem von Tessa und Mo zusammenhängt…

Beurteilungstext

Anja Reumschüssels Roman „Über den Dächern von Jerusalem“ spielt in zwei Zeitebenen. Die erste Buchhälfte bezieht sich auf die Jahre 1947/48. Die 15-jährige Jüdin Tessa musste in einem Nazi-KZ den Tod der Mutter und der kleinen Schwester miterleben. Sie selbst hat nur mit Mühe überlebt und konnte nach langer Wartezeit Ende 1947 illegal nach Palästina einreisen, wo die Juden auf die Gründung des eigenen Staates Israel warten. Tessa findet dort ihren Vater wieder, der aktiv beteiligt ist am Widerstand gegen die Araber und Palästinenser, die sich gegen einen jüdischen Staat ausgesprochen haben. Der Vater des 16-jährigen Arabers Mo ist bei einem derartigen Aktion ums Leben gekommen. Tessa und Mo treffen zufällig während eines Terroranschlags aufeinander. Beide spüren spontan so etwas wie Verbundenheit. Sie treffen sich wiederholt auf dem Dach von Mos Elternhaus mitten in Jerusalem, um wieder und wieder die verfahrenen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse auszudiskutieren. Und trennen sich irgendwann im Streit.
Die zweite Zeitebene heißt schlicht Gegenwart, also etwa zwei Generationen später. Die junge israelische Soldatin Anat wird bei einer Wehrübung mitten im Westjordanland von ihren Leuten alleingelassen. Der 15-jährige Palästinenser Karim, der zufällig vorbeikommt, hilft ihr in dieser lebensgefährlichen Situation. Zwischen beiden entwickelt sich ebenfalls eine freundschaftliche Beziehung. Auch sie diskutieren hin und her, warum sich ihre Volksgruppen nunmehr seit Jahrzehnten spinnefeind sind und bis aufs Blut bekriegen.
Und bald stellt sich heraus, dass die ein Dreivierteljahrhundert auseinanderliegenden Schicksale dieser vier so unterschiedlichen Menschen in einer ganz besonderen Weise miteinander verwoben sind.
Wie kann man Heranwachsenden – und nicht nur ihnen – verständlich machen, dass trotz jahrzehntelanger Bemühungen von verschiedenen Seiten bislang noch immer keine friedliche Koexistenz zwischen Juden und Palästinensern möglich ist. Eine überaus wichtige Frage; denn die nicht enden wollenden Zwistigkeiten haben ihre Auswirkungen nicht nur vor Ort, sondern auch für die Weltpolitik. Und die verfahrene Situation hat gewiss auch etwas zu tun mit zunehmendem Antisemitismus in Deutschland und weltweit.
Die Autorin hat es sich mit einer Beantwortung nicht leicht gemacht. Sie ist dank vieler langer Nahost-Besuche eine ausgewiesene Kennerin der Materie. Ihr geht es nicht um eine bloße Auflistung historischer Abläufe, viel weniger noch um eine einseitige Schuldzuweisung. In ihrer ungemein anrührend erzählten Geschichte zweier Beziehungen, die es dort so eigentlich gar nicht geben darf, lässt sie vier ganz unterschiedliche Menschen mit ihren oft gegensätzlichen, aber jeweils durchaus fundierten und nachvollziehbaren Meinungen zu Wort kommen. Reumschüssel stützt sich dabei nach eigenen Angaben nicht nur auf eine Fülle historischer Fakten (die jeweils passend in die Diskussionen einfließen), sondern auch auf etliche Interviews, die sie als Journalistin mit vielen Betroffenen beider Seiten geführt hat. Die Protagonisten des Romans hat es zwar nie gegeben, aber nahezu alles, was sie erleben, ist genau so oder zumindest ähnlich passiert (s. Nachwort S. 321). Eine simple Unterteilung in Täter und Opfer gibt es dabei nicht; das wäre für Autorin nach all dem, was sie erlebt und gehört hat, auch gar nicht möglich. Und sie gibt sich auch keineswegs der Illusion hin, dass durch einen gut geschriebenen Roman – und das trifft auf ihr Buch zweifellos zu – das Nahost-Problem gelöst werden könnte.
Dagegen ist ihre Botschaft recht eindeutig: Es ist eminent wichtig, einander zuzuhören, miteinander zu reden, die Beweggründe der Gegenseite möglichst vorurteilsfrei zu hinterfragen. Und das geschieht weit weniger auf der großen Bühne der Weltpolitik, sondern kann und muss im direkten Kontakt einzelner Personen untereinander begonnen werden.
Für das Verständnis dessen, was den Nahen Osten seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommen lässt, ist der Roman ausgezeichnet geeignet für Jugendliche ab 14 Jahren wie auch gleichermaßen für Erwachsene, die die komplexe Thematik einmal aus einem anderen Blickwinkel heraus betrachten wollen als nur anhand häufiger, aber zumeist unpersönlicher Medienberichte über neue Attentate und Terroranschläge . Auch im schulischen Unterricht in der Mittel- und Oberstufe lässt sich das Buch bestens als Basislektüre verwenden. Denn gerade die Tatsache, dass Reumschüssel sich an Personen abarbeitet, selbst aber kein „Patentrezept“ anbietet, lässt eine offene Diskussion am ehesten zu.
Das Glossar am Ende des Buches ist leider etwas dürftig ausgefallen. Zwar erklären sich manche Begriffe mehr oder weniger aus dem Kontext, aber manches hätte man gerne auch in der Auflistung nachgeschlagen. Eine kleine Kartenskizze von Israel und den umliegenden Gebieten, in denen der Roman spielt, wäre auch nützlich gewesen. Aber das Fehlen schmälert keinesfalls die Qualität und Wichtigkeit der im Buch angesprochenen Thematik.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Gerd Klingeberg; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 01.03.2023