Sprechen und Schweigen über sexualisierte Gewalt: Ein Plädoyer für Kollektivität und Selbstbestimmung

Autor*in
Schwerdtner, Lilian
ISBN
978-3-96042-103-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
144
Verlag
edition assemblage
Gattung
SachliteraturTaschenbuch
Ort
Münster
Jahr
2021
Lesealter
ab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
12,80 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein umfassendes, theoretisch fundiertes und zugleich praktisch richtungsweisendes Werk darüber, wie Diskurse über sexualisierte Gewalt momentan verlaufen und wie sie sich verändern müssen, um Schutz und Selbstbestimmung für die Betroffenen zu ermöglichen.

Beurteilungstext

Sexualisierte Gewalt ist ein Thema, dem gesamtgesellschaftlich in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit zuteilwurde. Dass mehr Auseinandersetzung jedoch nicht automatisch auch besseres Sprechen über etwas bedeutet, zeigt Lilian Schwerdtner im vorliegenden Buch, welches sich mit der sprachlichen Gewalt in diesen Diskursen beschäftigt. Ihr aus den drei Perspektiven der Betroffenen, der Aktivistin und der Theoretikerin verfasstes Werk verfolgt dabei einerseits die Intention, Betroffene zu bestärken und ihnen beim Finden von Worten über das Erlebte zu helfen. Andererseits gehören auch alle anderen Menschen zur Zielgruppe, da es sich um ein strukturelles Problem handelt und somit alle auf verschiedene Arten betroffen sind – es gibt keine Unbeteiligten. Insbesondere werden auch Journalist*innen adressiert, um deren bislang oft reißerischer Berichterstattung entgegenzuwirken.
Hauptthese des Buches ist, dass Betroffene sexualisierter Gewalt systematisch zum Schweigen gebracht werden, wenn sie über ihre Erfahrungen sprechen wollen. Diese sprachliche Gewalt wird in den ersten vier Kapiteln ausführlich analysiert. Zunächst findet sich ein Grundlagenkapitel, in dem unter anderem der Zusammenhang des Themas mit Gender untersucht wird und Definitionen für sexualisierte und sprachliche Gewalt aufgeführt werden. Die Kapitel zwei bis vier setzen sich mit der Sprechakttheorie auseinander und zeigen mehrere Ebenen auf, auf denen sprachliche Gewalt stattfinden kann, z.B. nichts sagen zu dürfen, Verharmlosung, Absprechen von Erfahrungen, Schweigen und Instrumentalisierung des Erlebten für beispielsweise migrationspolitische Belange rechter Positionen. Weiterhin geht es um Traumatisierung und Retraumatisierung, Scham und internalisierte Schuldumkehr sowie Diagnosen und Opferklischees. Im fünften Kapitel schließlich wird diskutiert, wie gelingend(er)es Sprechen möglich sein kann. Es werden Bedingungen für dieses aufgezeigt – sowohl strukturelle (z.B. Anerkennung sexualisierter Gewalt als strukturelles Problem, Verfügbarkeit klarer Worte), als auch auf Zuhörende bezogene (das Schweigen der Betroffenen zu hören, mit Betroffenen zu sprechen statt über sie) und auf Betroffene bezogene Bedingungen (z.B. Kollektivität statt Isolation). Als Beispiele gelingenden Sprechens werden DefMa und #MeToo vorgestellt.
Es gelingt Schwerdtner mit diesem Buch, Mehrdimensionalität in einen Diskurs zu bringen, der Täter*innen bislang fast ausschließlich als fremde Männer, Betroffene als schwache, wehrlose Frauen und Vergewaltigungen als Ausnahmesituationen verhandelt und damit die strukturellen Aspekte vollkommen vernachlässigt. Ihre Sprache ist dabei klar und gut verständlich. Philosophische Ausführungen sind immer in eigenen Unterkapiteln untergebracht, sodass die Leser*innen diese je nach Interesse auch überspringen und sich den praktischen Teilen des Buches zuwenden können. Auf die Darstellung von Einzelschicksalen wird im gesamten Buch bewusst verzichtet, weil bei diesen oft eine Verantwortungsverschiebung im Diskurs hin zu den Betroffenen stattfindet.
Insgesamt kann das Buch wärmstens empfohlen werden, um sich theoretisch und praktisch damit auseinanderzusetzen, wie gelingenderes Sprechen und Zuhören zum Thema sexualisierte Gewalt gelingen, wie Kollektivität, Schutz und Selbstbestimmung ermöglicht werden können.

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Diese Rezension wurde verfasst von jalt; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 19.10.2022