Sexy

Autor*in
Oates, Joyce Carol
ISBN
978-3-446-20792-9
Übersetzer*in
Kollmann, Birgitt
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
204
Verlag
Hanser
Gattung
Ort
München
Jahr
2006
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
14,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Verwirrend fühlt es sich an, dieses Erwachsenwerden. Darren befindet sich in der Schwebe, er bemüht sich seine Umwelt zu verstehen, den Anforderungen seiner Lehrer und Familie gerecht zu werden, und gleichzeitig so etwas wie eine Identität zu entwickeln. Als dann aber die Sache mit seinem Englischlehrer passiert, wirft ihn das völlig aus der Bahn.

Beurteilungstext

Auch in ihrem neuesten Roman scheut sich Joyce Carol Oates nicht, Dinge beim Namen zu nennen, die andere vielleicht lieber unter den Teppich kehren möchten. Wieder ist ihr Protagonist kein strahlender Held, sondern ein Junge, der sich indirekt schuldig am Untergang eines Lehrers macht. Wie in ihren anderen Büchern gibt es kein unrealistisch positives Ende, statt dessen finden die Figuren zu einer Art inneren Frieden - wohl wissend, dass die Erfahrungen, die sie gemachte haben, sie für immer geprägt und etwas in ihnen zerstört haben: ihre Unschuld.
Dass homosexuelle Männer ihm gefährlich werden können, lernt Darren früh von seinem Vater. Vorsehen soll er sich auf öffentlichen Toiletten, vor allem "bei deinem Gesicht, und dazu deine stille, zutrauliche Art" (55). Dieses unbeholfene Vater-Sohn-Gespräch kommt Darren wieder in den Sinn nach der Sache mit seinem Englischlehrer Mr. Tracy. Der bei allen beliebte junge Lehrer hat ihn nach dem Schwimmtraining mit dem Auto nach Hause gefahren und ihn gebeten, ihn beim Vornamen zu nennen. Obwohl diese kurze Episode ein unwohles Gefühl bei Darren hinterlässt, zwingt er sich, nicht länger darüber nachzudenken, ebenso wenig wie über die unerwartete gute Englischnote oder die plötzliche Entscheidung von Mr. Tracy ihn in die andere Englischklasse einzuteilen. Als der talentierteste Schwimmer in Darrens Team von Mr. Tracy des Plagiats überführt wird und daher vom Training ausgeschlossen wird, gerät die Situation außer Kontrolle. Von Rachebedürfnissen angestachelt, lässt eine Gruppe von Schülern dem Direktor falsche Beweise zukommen, die den Lehrer als Pädophilen hinstellen. Wiederholt bittet Mr. Tracy Darren in E-Mails um Hilfe. Dieser zögert, wird panisch, als die Polizei ihn mit einer Zeugin konfrontiert, die ihn im Auto von Mr. Tracy gesehen hat und ihn nun zu einer belastenden Aussage drängt.
Einige Tage später ist der Lehrer tot, ein Autounfall. Darren versucht auf seine eigene Weise den Schuldgefühlen zu entkommen. Er verausgabt sich beim Schwimmen, hat Sex mit einer älteren Studentin und prügelt sich mit den Jungen, die die Hetzkampagne begonnen haben. Am Ende ist er dennoch irgendwie glücklich - in dem Bewusstsein, dass er sein Leben von nun an selbst in die Hand nimmt.
Der Leser erfährt die Ereignisse vorrangig aus Darrens Perspektive, seine Unsicherheit und Verwirrung werden durch die innere Rede deutlich, die sich oft wie die Stimme seines Gewissens zwischen die Zeilen mischt, im Schriftbild kursiv abgesetzt. Der Großteil des Geschehens wird als Rückblende erzählt, in der der Tod des Lehrers nicht etwa am Ende des Romans steht, sondern in der Mitte. Nicht der (vermutliche) Selbstmord des Lehrers als Konsequenz für die Intrige der Schüler steht also im Mittelpunkt, sondern die darauf folgenden Ereignisse und die Art, wie Darren lernt, mit seinen Schuldgefühlen umzugehen. Erst auf den letzten 20 Seiten wechselt das Erzähltempus vom Präteritum in die Gegenwart: Darren ist im Alltag wieder angekommen, er setzt sich mit seinem Leben auseinander sowie mit den Jungen, die er früher zu seinen besten Kumpels gezählt hat und die er nun, wegen der Sache mit Mr. Tracy, verachtet. Durch die vielen Rückblenden und Prolepsen lässt sich die Verwirrung Darrens zum Teil gut nachvollziehen, man fühlt mit, wie ihn manche Ereignisse nahezu überrollen, andere hingegen von ihm sehr intensiv erlebt werden.
Eingeschobene Textstellen wie die E-Mails des Lehrers oder die Zeitungsmeldung über seinen Autounfall unterbrechen die Rahmenhandlung und führen sie auf einer anderen Ebene weiter. Wie auch schon bei Freaky Green Eyes wird z.B. durch die unpersönliche Wiedergabe des Polizeiprotokolls die Distanz zum Leser erhöht, der durch die reine Präsentation des Gesprochenen allerdings auch gerade auf die feinen Zwischentöne achten kann.
Zu verbergen versucht Darren nicht nur die Angst vor den Annäherungen des Lehrers und vor dem Gerede seiner Freunde, sondern auch die Erinnerung an die eigenen Taten. Denn der Leser lässt sich in die Irre führen, wenn er vorschnell Darren lediglich als Opfer seines überfreundlichen Lehrers betrachtet und ihn so von jeder Schuld frei spricht. Aufgestachelt durch die Dämonisierung, die der Vater homosexuellen Menschen anhängt und im Vater-Sohn-Gespräch mehr als deutlich macht, hat sich bei Darren seit der Kindheit ein Misstrauen gegen Homosexuelle entwickelt, das seine destruktive Wut und undefinierbare Angst bei einem Überfall in einer öffentlichen Toilette entlädt: "Darren fluchte nicht, sondern packte den Schwulen bei den klebrigen Haaren und hätte ihn mit dem Kopf gegen die Betonwand geknallt, wenn ihn nicht einer seiner Freunde daran gehindert hätte." (63)
Darren ist schuldig geworden, nicht nur der Körperverletzung, sondern auch, indem er den schwelenden Konflikt unter den Schülern ignoriert und seine eigene Beteiligung und Kenntnis der Pläne permanent sich selbst gegenüber leugnet. Auch die verzweifelten E-Mails seines Lehrers löscht er ungelesen, weigert sich, diesen zu rehabilitieren. Ironischerweise ist er sich völlig bewusst, dass Mr. Tracy der einzige in seiner Umgebung wäre, der ihn in seinem Dilemma verstehen würde: "Aber dafür ist es jetzt zu spät." (114)
Ob der Lehrer tatsächlich mehr für seinen Schüler empfindet, als er es sich aufgrund seiner Position erlauben darf oder ob er lediglich das unschuldige Opfer einer Schülerintrige wird, lässt der Roman offen. Darren weiß in seinem Inneren, dass nichts passiert ist, dennoch ist er zunächst nicht in der Lage, über seinen Schatten zu springen und seine verwurzelten Vorurteile aufzugeben.
Für den Unterricht besonders reizvoll ist der Roman aufgrund seiner problematischen Erzählperspektive. Durch die sehr enge personale Erzählführung, die durch eingeschobene Passagen in Ich-Form bis hin zum inneren Gedankenstrom unterbrochen sind, lässt sich gut Wirkung und Strategie dieses narrativen Merkmals erklären.
Die Themen, die in Sexy angesprochen werden, sind alles andere als leichte Kost. Es geht um das Erwachsenwerden, möglichen sexuellen Missbrauch von Schülern durch einen Lehrer, um Gruppenzwang sowie Vorurteile und körperliche Gewalt gegen Homosexuelle. Auch wenn es sich dabei u.a. um für die Schüler schwer zu erarbeitende Tabuthemen handelt, sollte der Lehrer nicht vor einem Einsatz im Unterricht zurückschrecken. Denn gerade diese Romane sind es, die im Unterricht die Möglichkeit bieten, dass die Schüler ein Bewusstsein entwickeln für Toleranz, Zivilcourage und die Rolle, die die Peer Group bei der Meinungsbildung spielt.
Auf der anderen Seite darf man nicht außer Acht lassen, dass der Lehrer Darren eine große Verantwortung übergibt, wenn er ihn darum bittet, für ihn auszusagen. Das Übernehmen von Verantwortung ist Teil eines jeden jugendlichen Entwicklungsprozesses, allerdings sollte man sich stets der eigenen Grenzen bewusst sein und gut dafür sorgen, dass diese nicht verletzt werden.

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Diese Rezension wurde verfasst von RD.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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