Samira & Samir

Autor*in
Shakib, Siba
ISBN
978-3-570-30585-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
287
Verlag
Gattung
Ort
München
Jahr
2009
Lesealter
12-13 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
7,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Nur weil der Vater sich schämt, eine Tochter zu haben, wächst Samira als Samir auf. Der Vater freut sich über seinen Sohn, der mutig und stark wird, so stark, dass er der Traummann des Hindukusch wird. Samira lebt sich so in ihre Rolle hinein, dass sie selbst nicht mehr so recht weiß, ob sie Junge oder Mädchen ist. Erst in der Pubertät muss sie sich entscheiden; selbstbewusst und listenreich wie Odysseus heiratet sie die Freundin, liebt deren Bruder und weiß, dass sie keinen verletzen wird.

Beurteilungstext

Eine Victor- & Victoria-Geschichte, die befremdlich beginnt, eine fremde Welt zeigt und märchenhaft erzählt von einer starken, heranwachsenden Frau.
Siba Shakib ist eine Meisterin des orientalischen Märchens: Einfache Sätze in einer blumenreichen Sprache und nach einer gewissen Eingewöhnungszeit zieht sie den Leser - d.h. eigentlich: den Zuhörer - in den Bann ihrer Geschichte, wie Scheherazade es einst mit ihrem Gebieter tat.
Scheinbar zeitenlos leben die Protagonisten irgendwo im Hochland des Hindukusch. Nur gelegentlich werden Zeitmarken gesetzt: Krieg gegen die Russen, Krieg gegen die Taleban, Kampf mit den Amerikanern. Das ist alles Ferne, geradezu unwirklich für alle Beteiligten.
Die Auswirkungen aber erreichen die Handlung.
Samira wächst in der Männerwelt Afghanistans auf; was anfangs Camouflage war, weil der Vater Angst hatte, seine Ehre zu verlieren - nur wenn das erste Kind ein Sohn ist, hat er bewiesen, dass er ein rechter Mann ist - wird nach und nach ein Gegenmodell zur afghanischen Gesellschaft, in der Frauen nur dann gute Frauen sind, wenn man sie gar nicht wahr nimmt. Bewusst wird es dem Kind erst spät, dass es gar kein Junge ist, da aber hat es sich schon eine Top-Rolle in der Kinderschar des Halbnomadendorfes erkämpft. Alleine lösen kann Samira das Problem nicht, braucht die Hilfe ihrer Mutter. Und die versagt, hat nie gelernt, ihre Stimme gegen den Willen des Mannes zu erheben. Und Samira verstummt.
Erst als der Vater stirbt - im Kampf gegen die Russen - bekommt sie ihre Stimme wieder. Nun soll sie die Rolle des Familienhauptes übernehmen, aber die Skrupellosigkeit von Nachbarn macht alles zunichte, Mutter und Tochter fliehen zum Großvater, in dem Samir einen wahren Freund findet. Und im Nachbarjungen, den sie erst ablehnt, schließlich liebt.
Wie sich dieses starke Mädchen aus der schier unlösbaren Aufgabe herauswinden kann, einen Jungen zu lieben, dessen Schwester ebenfalls und die auch heiratet, dann mit einem Rundumschlag alle halbwegs befriedigt und für sich selbst einen für sie akzeptablen Ausweg findet, ist alleine schon der Lektüre wert - das erzähle ich hier nicht weiter.
Der Weg dahin ist auch steinig. Samira muss ihrem Freund erst erklären, was Leben heißt: Ich (habe) gesehen, wie meine Mutter ihren Verstand verloren hat, ich habe gesehen, wie mein Vater seine Würde verloren hat, weil sie nicht auf ihr Herz gehört haben, immer nur das getan haben, was andere, die Religion, die Tradition, der Mullah und wer sonst noch von ihnen erwartet haben... ...solange wir leben, haben wir Kraft, aus unserem Leben zu machen, was immer wir wollen. (S.179) Und später: Mutter, wir leben in einem Land, in dem auch die Männer nicht frei sind. Wären sie frei, bräuchten sie den Frauen die Freiheit nicht nehmen. Wer frei ist, muss keinem anderen verwehren, ebenfalls frei zu sein.(S.245)
Das ist das eigentliche Thema. Wie kann ein Mädchen im traditionellen Afghanistan überhaupt auf derlei Ideen kommen? Offensichtlich nur durch den Zwang, eine andere Geschlechterrolle einzunehmen und dann auf die richtigen Menschen zu stoßen, die ähnliche Ideen bereits haben. Diese Menschen sind der Großvater, der dem Enkel beizubringen versucht, dass man seine eigenen Ziele erkennen und verfolgen muss, der Lehrer, der davon redet, dass alles möglich ist, nur nicht immer hier an diesem Ort. Dass man dann den Ort suchen muss, wo das andere möglich ist. Sogar der Vater gehört dazu, der von anderen Menschen unabhängig sein wollte, es aber deswegen nicht schaffte, weil er gar nicht auf den Gedanken kam, gegen die Traditionen zu verstoßen.
Aber selbst Samira/Samir muss auch die Gegenrolle ausprobieren, sich regelrecht mit dem Freund vermählen, mit ihm durch die Dörfer zu ziehen, um zu erkennen, dass sie diese unterwürfige Rolle der völlig verschwindenden Frau nicht spielen kann - und dass ihr frischer Ehemann sofort in die Traditionsrolle verfällt, aus der er nicht heraus kann, wenn ihm dieser Platz zugebilligt wird.
Am Schluss hinterlässt die listenreiche Samira ihr Dorf in einem Versprechen: alle Männer, die das verhindern könnten, hat sie durch heilige Schwüre verpflichtet, die Frauen und Mädchen unterrichten zu lassen, ihnen Lesen und Schreiben beibringen zu lassen und hat es auch geschafft, dabei innerhalb der Tabus ihrer Gesellschaft zu bleiben, so dass große Chancen auf Erfolg bestehen.

Im Gewand eines Märchens tritt hier eine harte Anklage gegen die Männergesellschaft in Afghanistan zu Tage, schonungslos und nicht ganz jugendfrei werden die Männer in ihrer selbstgefälligen Pascharolle entblößt, der Ekel Samiras teilt sich dem Leser unmittelbar mit. Dazu gibt es auch den Gegenpol der liebenden Samira, die nicht weiß, ob sie den Freund oder seine Schwester liebt oder beide, in anrührenden Szenen suchen die jungen Menschen ihr Glück, ihr Lebensziel. Und es wird klar, dass sich nicht nur Samira ändern kann. Das betrifft jeden, besonders aber die Frauen, die sich aus ihrer passiven Rolle heraus wagen müssen. Denn die Privilegien, die die Männer dieser Gesellschaft besitzen, gibt keiner freiwillig auf; er muss schon dazu gezwungen werden.

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010