Ratten - mit dem Gedicht Schöne Jugend von Gottfried Benn

Autor*in
ISBN
978-3-941087-72-9
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Erlbruch, Wolf
Seitenanzahl
36
Verlag
Jacoby & Stuart
Gattung
BilderbuchSachliteratur
Ort
Berlin
Jahr
2009
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
9,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

12 Zeilen eines Gedichts aus dem Jahr 1912, das mit dem Entsetzen spielt. Gottfried Benn verfasste ein Gedicht über eine Wasserleiche, in der es sich eine Rattenfamilie gemütlich gemacht hat. Als diese "Idylle" entdeckt wird, endet sie sofort mit dem Tod der jungen Tiere. Sehr schwarz, dieses Gedicht, von Humor keine Rede - und passend (?) benutzt Wolf Erlbruch als Bild-Untergrund alt-gebräunte Seiten einer Logarithmentafel.

Beurteilungstext

Nein, gar kein Kinderbuch. Nein, kein Buch für Menschen mit zarter Seite. Wenn man Enna (6 Jahre) folgen will, dann muss es ein gutes Buch sein, denn wenn man es aufklappt, dann ergänzen sich die Außenseiten von vorn und hinten zu einem ganzen Bild. Wir sehen die Zahlen-Kolonnen einer Logarithmentafel. Die Zahlen stehen wie zufällig auf dem Kopf, die darüber mit schwarzem Stift und mit schnellem, fast wilden Strich gezeichnete Ratte sieht auf den ersten Blick nur struppig aus, ein Fell, das die guten Seiten des Lebens nicht kennt. Das frei gelassene Loch, das wir als Auge wahrnehmen, ist klein und länglich. Sofort stellt sich der Eindruck eines (sehr) verschlagenen, hinterhältigen Tieres ein. Und während die Oberschenkel der Ratte noch flächige Dicke zeigen, wird es in Richtung Füße immer dünner, bis der Fuß selbst sich als Kralle oder merkwürdigerweise als Rad erweist.
So verstörend wie das Titelbild, so ist die Interpretation des Gedichts. Erlbruch wählt als erstes die Richtung der Ratte von links nach rechts, so, wie wir schreiben. Das bedeutet Aufbruch, fort von hier. Gleichzeitig gibt er aber der Ratte eine deutliche Korrektur, indem er sie von oben links nach unten rechts zeichnet. Ein klassischer Abgang als Hinweis auf das Ende.
So wie der Benn-Text fast leidenschaftslos berichtet (bis zum Ende ist noch etwas Zeit), so richtet Erlbruch seine Ratte wieder auf, gibt ihr sehr lange Beine, als könne sie in die Welt hinaus galoppieren - und karikiert sein Bild zugleich, indem er eine Maus aus dem Hause Disney als Sperre hinstellt, klein zwar, aber stoisch, unbekümmert. Und Erlbruch dreht die Ratte auf der nächsten Doppelseite, löst die wieder nach rechts Schauende fast auf, um sie gleich - wieder nach links - fast zerbrechlich darzustellen. Das Auge ist kaum noch zu erkennen, nichts mehr von der anfänglichen Überheblichkeit, nichts mehr von "Mir gehört die Welt, wetten?".

Benn beklagt nicht den Tod der Ratte(n), sondern er lobt die (kurze) Zeit der "schönen Jugend" und die Tatsache, dass er nicht langsam und schmerzvoll kommt, der Tod, sondern schnell und schön.
Dabei meint er ausdrücklich den Tod der Rattenkinder, nicht etwa den der Wasserleiche. Von der ist schon sehr früh nur noch in Einzelteilen die Rede.

Wie weit darf das Spiel mit dem Tod gehen? Erlbruch hatte erst kürzlich mit "Ente, Tod und Tulpe" ein hervorragendes und leises Bilderbuch über das Sterben veröffentlicht (siehe auch www.ajum.de/html/Lesepeter/200712.html), das dem Sterben jegliche Angst nimmt.
Das Buch "Ratten" von Gottfried Benn folgt der "Ente …" nur chronologisch. Es ist erheblich radikaler, lässt den menschlichen Körper so gar nicht menschlich zurück, verfügt ihn als Biomasse für die Überlebenden, bis die Nachkommen der Pietät wegen neuen Tod (den der Ratten also) fordern und begehen.

Wer direkt vor dem Ende steht, nein, einen Schritt danach, der pflanzt selbst keinen neuen Baum. Wer dann?

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Diese Rezension wurde verfasst von uhb.
Veröffentlicht am 01.01.2010