Punkte

Autor*in
ISBN
978-3-522-30471-9
Übersetzer*in
Naoura, Salah
Ori. Sprache
Italienisch
Sprecher*in
Zanotti, Clara
Umfang
50  Minuten
Verlag
Thienemann
Gattung
AudioBilderbuchSachliteraturTaschenbuch
Ort
Stuttgart
Jahr
2017
Alters­empfehlung
4-5 Jahre6-7 Jahre8-9 Jahre10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
14,99 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Ein gezeichnetes Lehrstück über Migration und Fremdenangst

Beurteilungstext

„Hallo, ich bin ein Punkt“, sagt der Punkt. Der Punkt ist rund und schwarz, wie Punkte eben sind. Wäre er nicht rund, müsste man ihn als Fleck bezeichnen, doch um Flecken geht es nicht, sondern um Punkte. Viele Punkte. Denn der Punkt hat Freunde. „Und die Freunde haben Freunde und Freunde von Freunden.“ Also, es geht um eine Ansammlung von Freunden, was man auch als Gesellschaft bezeichnen kann, wenn man die Feinheiten beiseitelässt. Es geht um eine Botschaft, eine Sendung oder ein Versprechen. Die Kinder sollen sie verstehen, da sind die Zwischentöne fehl am Platz. Was sollen sie verstehen? Dass wir – wir alle, wohlgemerkt - es als Punkte unter vielen Punkten schön haben. „Wir haben Häuser, wir haben Spaß und was zu essen.“ So sagt es uns das Buch. Unsere Häuser sind groß. Spaß haben wir im Riesenrad und wenn wir Hunger haben, essen wir einen Hamburger mit oder ohne Salat. So weit, so simpel.
Doch plötzlich kommt ein kleiner Kreis dazu, von links oben, einfach so. Er behauptet von sich, ein Punkt zu sein, was er nicht ist, doch wie gesagt, mit Feinheiten hält sich dieses Buch nicht auf. Der kleine Kreis ist ein Punkt und fertig. Und dieser kleine Kreis ist nicht allein. Mit ihm kommen viele, viele neue Punkte, die eigentlich Kreise sind. Was fällt uns dabei auf? Im Gegensatz zu den Punkten haben die Kreise keine Freunde. Ob das so ist und wie das kommt, wenn es so ist, wird nicht erklärt. Es sind eben viele, viele, kleine Kreise beziehungsweise Punkte, und keiner ist mit dem anderen befreundet. Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Die Kreise strecken ihre Hände in die Höhe und rufen: „Unser Leben ist nicht schön! Wir haben kein Essen, keinen Spaß, keine Häuser …“ Warum das so ist, wird wieder nicht erklärt. Feinheiten, wie gesagt. Die kleinen Kreise, die keine Punkte sind – wir lassen das jetzt einfach mal so stehen – drängeln sich von links an die Punkte heran und fragen: „Dürfen wir auf eure Seite?“ Da formiert sich die Gesellschaft der Punkte zu einem Parlament und sagt: „Moment, wir müssen nachdenken.“ Sie denken also nach und sagen schließlich: „Okay! Ein paar dürfen rüber.“ Es kommen aber nicht nur ein paar, sondern viele, viele, viele kleine Kreise, die immer noch als Punkte bezeichnet werden. Da bekommen die Punkte natürlich Angst und rufen: „Langsam! Nicht drängeln! So geht das nicht!“ Doch die Kreise drängeln immer weiter. Sie mischen sich unter die Punkte, bis es eine Mischung aus Kreisen und Punkten gibt und die Punkte nicht mehr behaupten können, in einer Gesellschaft von Punkten zu leben. Da kratzt sich die so entstandene Mischung am Kopf und sagt zu den Kreisen, die noch nicht Teil der Mischung sind: „Wir müssen eine Lösung finden. Wir kommen zu euch rüber. Wir helfen euch.“ Also machen sich jetzt die Punkte auf den Weg ins Reich der Kreise und alle zusammen bauen sie Häuser und Autos und Windmühlen und Fahrräder und Erdbeereis und Toastbrot oder Vollkornbrot, Kühlschränke und Kletterhäuschen. Am Ende haben sich die Punkte mit den Kreisen so vermischt, dass die Punkte keine Punkte und die Kreise keine Kreise mehr sind. Sie behaupten zwar immer noch: „Hallo, ich bin ein Punkt.“ Doch wie gesagt, mit Feinheiten hält sich dieses Buch nicht auf.
Was halten wir davon?
Eine Katastrophe, wenn wir es politisch differenziert betrachten. Was da alles fehlt, um Gotteswillen! Dass unsere Gesellschaft keine Ansammlung von Freunden ist, dürft jedem halbwegs Erwachsenen klar sein, und jedem Kindergartenkind im Grunde auch! Wo bleiben die Interessengegensätze? Wo bleibt der ewige Wahlbetrug? Hartz IV? Schäuble und Griechenland? Gabriel und die Rüstungsindustrie? Nahles und der Rentenbetrug? Der systemimmanente Rassismus? Die Ausplünderung der sogenannten Dritten durch die sogenannte Erste Welt? Die Überfischung der Meere? Also ab mit dem Buch ins Altpapier!
Doch dann beginnt der Rezensent nachzudenken und stellt sich vor, das Buch gerät in die Hände derer, die hierzulande das Gespenst der Mischung, den Verlust von Kultur und Identität, die Auflösung aller Grenzen und Sicherheiten an die Wände malen. Er stellt sich vor, wie ein Bernd Höcke, ein Alexander Gauland oder eine Frauke Petri dieses Buch in die Hände bekommen, er sieht die Angst in den Augen der Identitären, hört ihr Gebrüll und sein Ärger über das Buch schmilzt wie der Schnee an einem hellen Frühlingstag. Er kann nicht anders, er muss das Buch empfehlen, obwohl es sich um Feinheiten - wie schon gesagt - nicht schert.

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Diese Rezension wurde verfasst von bf; Landesstelle: Bremen.
Veröffentlicht am 30.07.2017