October, October: Die weite, wilde Welt wartet auf mich

Autor*in
Katya Balen,
ISBN
978-3-446-27715-1
Übersetzer*in
Birgitt Kollmann,
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Angela Harding,
Seitenanzahl
218
Verlag
Hanser
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
München/Wien
Jahr
2023
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Freizeitlektüre
Preis
18,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

October, 11, lebt allein mit ihrem Vater nahezu autark in einem Wald. Die Mutter musste beide verlassen, sie kann nur in der Stadt arbeiten. Seitdem verweigert October jeden Kontakt. Sie ist dabei glücklich und vermisst nichts, mit dem andere Kinder in dem Alter umgehen. Sie lernt mit den Jahreszeiten, der Vater unterrichtet sie. Nach dem Unfall des Vaters muss sie in eine reguläre Schule zur Mutter. Es wird eine harte Zeit für sie alle, bis Vater wieder gesund ist. Yusuf wird ein Freund.

Beurteilungstext

Katya Balen beschreibt in poetischer Sprache sehr eindrucksvoll das Leben der elfjährigen „October, October“ mit ihrem Vater (er nennt ihren Namen immer zweimal). Sie leben völlig allein in einem Wald, weit von der Stadt und anderer Gesellschaft entfernt.
Weitere Erzählstränge sind: die Pflege des verwaisten Schleiereulenkükens, die Beziehung zur Mutter, das Ankommen in einer neuen Lebenswelt, das Projekt der Mudlarker an der Themse.
Vater und Tochter führen ihr Leben im Einklang mit der Natur, wie es heute kaum noch möglich ist. Der Vater ist handwerklich geschickt und kann alle Arbeiten an Haus, Garten und im Wald - inzwischen auch mit Octobers Unterstützung- bewältigen. Zudem unterrichtet er sie selbst. Sie lernt gern und gut, ist aber offenbar ausschließlich mit ihrem eigenen Umfeld – wie in einem eigenen Ökosystem - beschäftigt und verbunden. Sie beobachtet viel und sammelt Fundstücke, zu denen sie gern Geschichten erfinden möchte. Sie liebt auch die Geschichten in ihren Büchern. Sie benötigt sonst nichts zum Leben, außer dem sich wiederholdenden Wechsel der Jahreszeiten mit allen gemeinsamen Ritualen. Selbst der raue Pullover, wenn das erste Anbaden nach dem Winter wieder möglich ist, stört sie nicht.
Als etwas Besonderes erlebt October die Beobachtung der Tiere und das Zuordnen der Klänge und Tierstimmen. So findet sie eines Tages auch die verlassene Schleiereule, Stig, um die sie sich kümmert, obwohl die Aussichten für deren Überleben nur gering sind.
Auch hierin unterstützt sie der Vater. Er fördert sie weitestgehend. Doch er nimmt bis zu ihrem 11. Geburtstag offenbar keinen größeren Einfluss darauf, dass October den Kontakt zur Mutter wieder aufnimmt. Sie verweigert sich gänzlich. Nicht einmal ihre Post will sie lesen, bzw. beantworten. Dabei waren sie zusammen einmal eine gut funktionierende Familie. Die Mutter konnte auf Dauer die Einsamkeit nicht ertragen und zog zum Arbeiten in die Stadt. Ihre Tochter konnte diese Entscheidung nicht akzeptieren und hat sie aus allen Lebenszusammenhängen gestrichen. Sie denkt und spricht nahezu über die ganze Länge der Erzählung nur immer von: „die Frau, die meine Mutter ist“.
Für October unvorbereitet, kommt diese Frau an ihrem Geburtstag zu einem Besuch. Daraufhin versteigt sich das Mädchen bis in die höchsten Spitzen eines Baumes. Der Vater möchte ihr zurückhelfen, steigt hinterher und verunglückt schwer. Er muss in die Stadt, in die Klinik und October zwangsläufig mit zu ihrer Mutter.
Weil auch die Eule versorgt werden muss, nimmt sie Stig einfach mit.
Dass die Mutter sie später wohlüberlegt einer Aufzucht-Station übergibt, vergrößert die Distanz zwischen beiden zusätzlich.
An den ersten Tagen verweigert October jegliche Kommunikation, ist aber schockiert über den Zustand des Vaters im künstlichen Koma, den sie verschuldet hat.
Als klar wird, dass eine Genesung – wenn überhaupt – langwierig sein wird, wird October an der nahen Schule angemeldet. Sie hat noch nie einen Kindergarten oder eine Klasse betreten und ist überwältigt von allem: dem Lärm der Stadt, den vielen unterschiedlichen Mitschülern, den Lehrern und ihren Anforderungen an die Einhaltung der üblichen Regeln. Obschon man ihr überall mit viel Empathie begegnet, spricht sie nicht. Sie bezeichnet sich selbst immer wieder als „wild“ und wird in der Klasse „Wolfsmädchen“ genannt. Alle wissen um ihre bisherige Biografie.
Nun wird October, die mit ihrem Vater mühelos kommunizieren und lernen konnte mit Anforderungen konfrontiert, die man bisher von ihr ferngehalten hatte. Sie spricht mit niemandem, kann aber die geforderten Aufgaben bewältigen.
Der Junge Yusuf, bei allen gleichermaßen geachtet und sehr beliebt, kommt über ein Arbeitsprojekt näher an sie heran. Mit ihm heult sie wie eine Wölfin und beginnt in der Bibliothek zum ersten Mal zu sprechen, als er mit den vielen tollen Büchern unvorsichtig umgeht. Bücher braucht Yusuf nicht. Da er selbst so wenig Arbeitseinsatz wie nötig einbringen möchte, rückt das Abgabedatum näher, ohne ein wirkliches Thema oder wirkliche Ergebnisse gefunden zu haben.
Eher zufällig stoßen sie auf die Gruppe „Mudlarker“ , die bei Tiefstand des Wassers im Schlamm des Flussbettes der Themse nach alten und neueren Schätzen suchen. October hofft auf neue Ideen für ihre Geschichten. Beide wollen nun auch Schätze finden, doch müssen sie zuerst von der Gruppe und ihrer Leiterin aufgenommen werden. Sie müssen deren Regeln beachten und mit dem Museum und Institutionen zusammenarbeiten. Die Leiterin wird eine wichtige Person zunächst für October, dann aber auch für ihre Freundschaft.
Bei den Mudlarkern findet October einen neuen Zugang zur Natur, knüpft mit einem Fundstück an die im Wald begonnene Suche nach einem zweiten Ring an. Sie kommt mit der Leiterin der Gruppe und immer mehr mit Yusuf auch über andere Werte und Zielsetzungen im Leben ins Gespräch.
Zum Schluss stellen sie vor der ganzen Schulgemeinde, unterstützt von den „Mudlarkern“ und anderen Erwachsenen das spannendste Projekt der Schule vor, das sogar überregional von Interesse zu sein scheint. Beide Elternteile sind dabei.
Plötzlich erscheint auch die Mutter in anderem Licht. October muss deren guten Willen und die Kompetenz in ihren Entscheidungen nach und nach anerkennen.
Die Bleistift-Illustrationen von Angela Harding sind berührend. Sie gibt in ihren Schraffuren in unterschiedlichen Grautönen dem Vogel den im Text beschriebenen Ausdruck. So kann miterlebt werden, dass das winzige, blinde und lebensunfähige Küken zu einer stattlichen Eule heranwächst, die aus der Station in die Nacht und Freiheit entlassen werden kann.
Die Auswilderung fungiert möglicherweise als Metapher für Octobers Entwicklung.
Balen schreibt über das Leben ohne Zivilisation so anschaulich, als sei sie selbst sehr intensiv mit der Natur verbunden. Sie nutzt typografische Abweichungen im Druck, um das sonst nicht als einmalig erfassbare Denken des Mädchens darzustellen. Es entstehen im Druck Passagen und Einschübe wie Denkbilder und Gedichte. An wenigen Stellen gibt es Mammut-Sätze, die eine Gedankenflut nahelegen.
Balen kann sich sehr gut in die Welt ihrer Protagonistin hineindenken, bzw. hat sie sie möglicherweise selbst erschaffen. Sie beschreibt Wahrnehmungen in interessanten Bildern und Metaphern.
Doch sie trennt radikal die entgegengesetzten Lebenswirklichkeiten und malt eine fast fehlerfreie Scheinwelt. Wo sollte die möglich sein? Es ist nicht glaubhaft, dass ein Kind – es sei denn in einer wirklich autistischen „Blase“ – sich elf Jahre ausschließlich mit der Natur, der Gegenwart ihres Vaters und ihren wenigen Fundstücken begnügt und in kratzige Pullover schmiegen möchte.
Das zeigt sich auch dadurch, dass der Zugang, den Yusuf findet, in der Erzählung sehr schnell geschieht. Ebenso problemlos kann sie schon bald mit der Leiterin der Mudlarker sprechen. Auch die Organisation der Schulpräsentation musste sicher abgesprochen werden. Auch da war Kommunikation nötig.
Daraufhin ist (ganz zum Ende der Erzählung) auch der Weg offen zu ihrer Mutter. In der Zukunft ist wohl auch ein Wechsel zwischen den Wohnorten denkbar. Die Schule wird nicht mehr abgelehnt, auch nicht die neuen Medien.
Sie lädt die Kinder ihrer Klasse sogar in den Wald zu einem großen Fest ein, um ihre Welt für einen Tag mit ihnen zu teilen. Alle kommen, sie wird von allen akzeptiert.
Die Angst vor Kommunikation hatte auch mit der Mutter zu tun, von der sich October verlassen fühlte. Sie nahm übel. Wohin wirkliche Vermittlungsansätze geführt hätten, ist hier nicht angedeutet. Immerhin bestand der Kontakt zwischen Vater und Mutter. Hat der Vater sich nicht eigentlich gegen ihre Förderung und Weiterentwicklung verhalten?
Diese Überlegungen machen ein uneingeschränktes Eintauchen in die so wunderbaren Beobachtungen des Waldes, des Wetters und der Jahreszeiten für die Rezensentin nicht möglich. Das sicher immer individuelle Problem autistischer (neurodiverser) Kinder, wird durch den Aufbau von Gegenwelten nicht zu lösen sein. Im besten Fall kann ein differenzierteres Verständnis erreicht werden.
Die Autorin arbeitet (lt. Verlagsangaben) mit „neurodiversen“ Menschen. Schon beim Lesen können Erwachsene vermuten, dass es hier um autistische Tendenzen im Wesen des Mädchens gehen könnte. Die Schilderungen aber, die mit der Mutter beginnen und mit der Verweigerung in der Schule weitergeführt werden, zeigen auch eine Verstocktheit, der offenbar nie wirkliche Versuche der Annäherung entgegengesetzt wurden. Zumindest kommen sie im Text nicht vor. Das Kind musste überfordert sein, weil völlig unvorbereitet. Wie hatte man sich eine Zukunft für sie vorgestellt? Die direkte Ablehnung der Mutter durch October und die indirekte, durch ihren Vater sind beim Lesen schwer zu ertragen.
In bisherigen Rezensionen wird überwiegend auf die wunderbare Schilderung der Natur verwiesen. In den meisten finden der gesamte Zeitraum der Schule und die Entdeckung der Mudlarker überhaupt nicht statt.

Anmerkung

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 30.08.2023