Neonazi

Autor*in
F., Timo
ISBN
978-3-401-50347-9
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
223
Verlag
Arena
Gattung
BiografieTaschenbuch
Ort
Würzburg
Jahr
2018
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
7,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Nur in der „Szene“ fühlt sich Timo angenommen, bestätigt, stark. Mit 14 Jahren gerät er in den Umkreis des Rechtsextremismus, erhält Funktionen und richtet sein Leben fast ausschließlich an der Tätigkeit in einer neonazistischen Jugendorganisation aus. Mit 17 wagt er den Ausstieg. Der autobiografische Bericht bietet ein ebenso anschauliches wie beklemmendes Bild einer extremistischen Parallelgesellschaft mitten in Deutschland.

Beurteilungstext

Timo kennt kein behütetes und geregeltes Familienleben. Sein Stiefvater verachtet und schlägt ihn, seine Mutter behandelt ihn mit Kälte. Der Junge sehnt sich nach Geborgenheit und Anerkennung, doch immer wieder muss er Trennungserlebnisse verkraften, sich in neue Umgebungen einfinden, an neue „Ersatzväter“ und Halbgeschwister gewöhnen. Seine Mutter ist unfähig, Verantwortung für ihr eigenes und für sein Leben zu übernehmen; dabei ist sie autoritär und verletzend. Timo fällt es sehr schwer, Freunde zu finden; in der Schule bekommt er durch sein gestörtes Umfeld zunehmend Probleme. Dabei ist er überdurchschnittlich intelligent und besitzt großes analytisches Vermögen und eine scharfe Beobachtungsgabe. Die Art und Weise, wie eine vermeintliche Annäherung an seine Mutter zustande kommt, als er ungefähr 14 ist, verblüfft ihn zunächst, schnell begreift er sie aber als „Chance“, endlich von ihr anerkannt zu werden: eher zufällig hören beide im Auto ein CD mit Rechtsrock-Liedern und die Mutter berichtet begeistert von ihrer Skinheadvergangenheit und ihren rechten Einstellungen. Timo verbringt nun Stunden damit, Stücke verbotener Nazi-Gruppen im Internet zu finden. Weniger weil sie seinem Geschmack entsprachen: „Mir ging es lediglich um das Gefühl der Verbrüderung mit meiner Mutter …“ (S. 52). Allmählich finden auch die durch die Musik zum Ausdruck gebrachten Ideologien in Timo einen Nährboden. Er legt sich ein „Nazi-Outfit“ zu; vor allem aber beginnt er, aktiv den Kontakt zur organisierten Szene in seinem Wohnumfeld zu suchen. Er lernt andere Jugendliche, fast ausschließlich junge Männer, kennen, die in einer Nachwuchsorganisation der NPD organisiert sind und begeistert sich zunehmend für ihre Aktivitäten. Er nimmt an Demonstrationen teil, unterstützt den Wahlkampf lokaler Nazi-Politiker und begeistert sich zunehmend für deren Überzeugungen, vor allem aber ihre Strukturen. Er versucht, eine Ortsorganisation zu gründen und gewinnt sein gesamtes Selbstwertgefühl zunehmen aus seiner Betätigung, von der er meint, sie diene dem Wohl seiner Heimat. Dass er ausgenutzt wird und wenig aufrichtige Freundschaft findet, bemerkt er zunächst nicht, denn: „In der Bewegung, in meiner Wahlfamilie … - da war ich wer!“ (S. 126) Das Verhältnis zu seiner Mutter hat sich da bereits wieder abgekühlt; sie kann mit den „Parteiaffen“ nichts anfangen. Timo fühlt sich zunehmend wichtig und ordnet den rechten Aktionen alles unter – sein soziales Leben leidet darunter ebenso wie seine schulischen Leistungen. Erst allmählich beginnen Zweifel aufzukommen. Ausschlaggebend dafür ist zum einen seine Einsicht, dass er sich auf kaum einen seiner rechten „Kameraden“ wirklich verlassen kann; zum anderen der Schock, als plötzlich Polizisten zu Hause auftauchen und ihm eine Strafanzeige wegen Sachbeschädigung (eine Plakataktion) aushändigen. Timo beginnt darüber nachzudenken, der Szene den Rücken zu kehren und erhält Hilfe von einer Aussteigerberatung. In einem mutigen Schritt offenbart er seine Wandlung; hält die Beschimpfungen und Bedrohungen als angeblicher „Verräter“ aus und findet in einer anderen Stadt den Weg in ein neues Leben. Er ist siebzehn.
Der junge Mann, der unter dem Pseudonym Timo F. seine Lebensgeschichte erzählt, legt einen schockierenden Bericht über die Zusammenhänge vor, die junge Menschen dazu bringen können, sich in rechtextremistischen Kontexten zu engagieren und dort heimisch zu fühlen. Er beleuchtet psychosoziale Ursachen und schildert sachkundig die strukturellen und organisatorischen Hintergründe der rechten Szene. Besonders plastisch arbeitet er heraus, welche Macht die vermeintliche Kameradschaft in den Organisationen auf Jugendliche wie ihn hat bzw. – in seinem Fall - hatte. Die Netzwerke übernehmen in beängstigendem Maße die regulativen Funktionen von Familie und „Peer-Groups“: „Ich hatte meine Kameraden und ich hatte meine Gesinnung. Mehr gab es doch nicht in meinem Leben.“ (S. 166) Das Buch wird damit zum Zeugnis des Wirkens demokratiefeindlicher, antipluralistischer und autoritärer Strukturen mitten in Deutschland.
Der autobiografische Bericht ist straff und mitreißend verfasst; durchgängig aus der Perspektive des Protagonisten. Der Stil ist ebenso einfach und unprätentiös wie überzeugend und fesselnd. Die meisten Figuren werden sehr plastisch herausgearbeitet und die Manipulationen, die einen Jugendlichen wie Timo zum Neonazi machen, nachvollziehbar dargestellt. Rätselhaft und wenig überzeugend bleibt die Person der Mutter. Ihre radikalen Kurswechsel in der Einstellung zum Rechtsradikalismus und zu Timos Verhältnis dazu, sind wenig einleuchtend. Der Autor versucht, ihre mangelnde Empathie, ihr fehlendes Verantwortungsgefühl anderen Menschen gegenüber und nicht zuletzt ihre Gefühlskälte gegen ihn selbst zu einem Psychogramm zu fügen, welches aber „unrund“ wirkt und seltsame Leerstellen aufweist. Eine andere Schwäche ist in der Art der Darstellung von Timos Abkehr von der Neonazi-Ideologie zu erkennen – sie vollzieht sich zu schnell und ist logisch nur bedingt zu verstehen.
Dennoch handelt es sich ein sehr verdienstvolles Buch. Es ist sehr gut geeignet für Schulprojekte zum Thema Rechtsextremismus. Ein umfangreicher Anhang mit Ansprechstellen für ausstiegswillige Neonazis komplettiert das Werk.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 15.03.2022

Weitere Rezensionen zu Büchern von F., Timo

F., Timo

Neonazi

Weiterlesen
F., Timo

Neonazi

Weiterlesen
F., Timo

Neonazi

Weiterlesen
F., Timo

Neonazi

Weiterlesen