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Autor*in
Sy, Astrid
ISBN
978-3-8369-6181-3
Übersetzer*in
Erdorf, Rolf
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
500
Verlag
Gerstenberg
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Hildesheim
Jahr
2023
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
24,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Anzahl der sog. Unrechtsstaaten nimmt gegenwärtig leider zu. Man hört von mutigen Menschen, die sich gegen die Regime auflehnen und meist im Gefängnis landen oder getötet werden. Können Einzelpersonen sich wirklich effektiv gegen diese Staatsmächte auflehnen? Astrid Sy berichtet von einer wahren Begebenheit aus den Niederlanden während des Zweiten Weltkrieges. Kleine Gruppen versuchen jüdische Kinder vor den KZ-Lagern und vor dem Tod zu retten.

Beurteilungstext

Am 19. Dezember 2023 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Dani Dayan, dem Vorsitzenden der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Zu Beginn dieses Interviews sagt er u.a.: "Antisemitismus ist ein Phänomen, das es schon seit Jahrtausenden gibt, das sich verwandelt. Es wäre naiv anzunehmen, dass Antisemitismus verschwindet wegen des Holocausts. Aber es ist deprimierend." Erschütternd, unfassbar und deprimierend war auch der Anschlag der Hamas am 7. Oktober auf ahnungslose Menschen am Strand bei Tel Aviv.
Der Hintergrund ist immer der Gleiche: Hass auf alles, was jüdisches Leben darstellt.
Auch in Deutschland gibt es in letzter Zeit wieder einen deutlichen Anstieg von antisemitischen Taten, obwohl gerade hier vor ca. 90 Jahren der antisemitische Terror am heftigsten gewütet hat, mit Auswüchsen in halb Europa.
Die niederländische Historikerin Astrid Sy ist mit diesem Leid 2011 in der Gedenkstätte Yad Vashem konfrontiert worden. Damals hatte sie den Entschluss gefasst von diesem unsagbaren Leid romanhaft zu erzählen. Nicht um Effekthascherei geht und ging es ihr. Sie wollte davon erzählen, wie jüdische Kinder in den Niederlanden in den Kriegsjahren bewusst gesammelt und verschleppt worden waren - mit und ohne ihre Eltern. Zehn Jahre hat der Entstehungsprozess dieses Projekts gedauert, bis die Erzählung so gereift ist, dass sie sachlich und doch ergreifend emotional schreiben konnte.
Da ist einmal die Widerstandsgruppe um Kaat und ihre Freunde, meist junge Studenten:innen aus wohlhabenden Amsterdamer Familien. Und da sind die Kinderschwestern der Amsterdamer Kinderkrippe. Hier warten die Kinder - vom Säuglingsalter ansteigend - auf den Tag ihrer Deportation. Manchmal mit ihren Eltern, manchmal ohne sie, wenn es sich um Waisen handelt. Die Erwachsenen sind in einem ehemaligen Theater gegenüber untergebracht, in dem eine qualvolle Enge herrscht. Die Direktorin der Kinderkrippe hat sich mit ihrem Team bereit erklärt, immer wieder jüdische Kinder heimlich "verschwinden" zu lassen.
Da begegnen sich die beiden Welten.
Die Studentengruppe hat Anschriften von Menschen im ganzen Land gesammelt, die bereit sind jüdische Kinder unter gefälschten Namen aufzunehmen. Es sind abenteuerliche Reisen, die Astrid Sy ohne Hektik, sondern in angenehm ruhigen Sätzen erzählt. Sie beschwichtigen nichts. Sie beschönigen nichts. Sie berichten von der Angst um die Kinder, von der Angst um die aufnehmenden Familien und auch um die eigene Angst erwischt zu werden. Denn dann erwartet sie am Ende ein KZ oder der Tod. Und man leidet mit den Protagonisten:innen, spürt ihre Angst und ihre Freude, wenn sie ein Kind gerettet haben.
Grotesk und zynisch zugleich war es, dass die Transporte der Kinder in Konzentrationslager von einem Judenrat organisiert werden musste. Dieser Judenrat war ein von deutscher Seite den Juden in Amsterdam aufgezwungenes Gremium. Sie selbst mussten also ihre eigenen Todestransporte organisieren.
Dieser Judenrat versuchte aber immer wieder das Leben von Kindern oder Erwachsenen zu schützen. Dabei war allen klar, dass bei der Rettung eines Kindes mindestens zehn andere den Weg in ein KZ antreten mussten. Zu dünn waren die Erfolgsaussichten. Und trotzdem gab es diese Zusammenarbeit mit den Widerständlern:innen.
Neben dieser, auf historischen Begebenheiten beruhenden Geschichte, erzählt die Autorin auch die private Seite der jungen Menschen. Es sind zwei Liebesgeschichten, die sich inmitten dieser lebensgefährlichen Situationen anbahnen. Damit ist Astrid Sys Erzählung auch eine Erzählung über das Erwachsenwerden von jungen Menschen in dieser Zeit.
Es ist ein Roman geworden, der einen nicht kalt lässt. Er geht unter die Haut, da er ehrlich ist, da er in einer ruhigen Sprache geschrieben ist und da er leider historisch wahr ist. Es ist ein Roman geworden, den man in Schulen lesen müsste, den Erwachsene und vor allem Politiker:innen aller Parteien lesen müssten.
Dani Dayan ist in dem Interview mit der Süddeutschen Zeitung zurückhaltend, wenn es um Politik geht. Doch ihn macht der Aufstieg der AfD große Sorge und er sagt abschließend: "Die zweite Sorge ist: Wir kamen nicht umhin festzustellen, dass in Bayern, wenn einem Politiker vorgehalten wird, er flirte mit dem Antisemitismus, seine Wählerschaft sogar noch zunimmt. Dabei sei dahingestellt, ob das nun wahr ist oder nicht, dass er das als junger Mensch gemacht hat...."
Dieses Phänomen zeigt, wie extrem wichtig es ist Astrid Sys Roman zu lesen und endlich zu begreifen, wie irrsinnig und unmenschlich Antisemitismus ist.

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Diese Rezension wurde verfasst von WaMi; Landesstelle: Bayern.
Veröffentlicht am 14.01.2024