Mute - Wer bist du ohne Erinnerung

Autor*in
Elsässer, Thomas
ISBN
978-3-446-27920-9
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
302
Verlag
Hanser
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
München/Wien
Jahr
2024
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüre
Preis
17,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Simwes sind eine heile und erfolgreiche Familie, auch wenn drei der vier Kinder adoptiert wurden. Als über Nacht die Eltern verhaftet und wegen Kindesentführung und weiterer Vergehen angeklagt werden, beginnt für die Kinder die schwierige Suche nach der Wahrheit, aber mehr noch nach ihrer eigenen, weitgehend vergessenen Herkunft. Das, was sie schließlich nach und nach darüber herausfinden, ist weitaus belastender, als sie es sich je hätten vorstellen können.

Beurteilungstext

Die drei Adoptivkinder Espe, Yuma, Farid und deren jüngste Schwester Sina, die leibliche Tochter des Ehepaars Sibel Anjali und Erik Simwe, verstehen sich blendend. Die Eltern – die Mutter ist Ärztin mit Schwerpunkt Epigenetik, der Vater arbeitet im Biotech-Bereich - tun alles, um den vier Kindern auf vielerlei Gebieten eine exzellente Ausbildung angedeihen zu lassen. Als eines Tages beide Eltern verhaftet werden, steht die Familienidylle vor dem Zusammenbruch. Die Eltern kommen in Untersuchungshaft, die Kinder werden in einem Safe House untergebracht. Sie bekommen psychiatrische Hilfe, auch weil die drei adoptierten offenbar starke posttraumatische Symptome zeigen, sich jedoch nicht oder allenfalls nur sehr vage an schreckliche frühkindliche Ereignisse erinnern können. Zwar sind ihnen die genauen Anklagegründe bezüglich der Eltern nicht bekannt, doch es hat wohl erhebliche Unstimmigkeit im Zusammenhang mit den Adoptionen gegeben, so dass eine Anklage wegen Kindesentführung erfolgt. Dazu wird vor allem dem Vater vorgeworfen, die eigenen Kinder als Versuchspersonen für zweifelhafte Versuche an Gehirnen missbraucht zu haben. Immer wieder betonen beide Eltern, dass ihnen alle ihre Kinder uneingeschränkt am Herzen liegen und dass sie alles für deren Wohlbefinden getan haben. Sie werden schließlich zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Doch das, was tatsächlich geschehen ist, geht weit über den Grund der Verurteilung hinaus.
In „Mute“ geht es um die Frage, ob und in welcher Intensität Erinnerungen an einschneidende frühere Ereignisse die Persönlichkeit eines Menschen entscheidend prägen. Und welche Auswirkungen wohl eine Verdrängung oder gar Blockade der eigenen Erinnerungen mit sich bringen.
„Mute“ wird aus der Ich-Perspektive der ältesten Tochter, der 17-jährigen Espe erzählt. Sie macht die psychische Belastung deutlich, die sich in unterschiedlicher Ausprägung bei den drei adoptierten Kindern zeigen. Obwohl es ihnen an nichts fehlt und sie bildungsmäßig in jeder Hinsicht gefördert werden, suchen sie alle nach ihren Wurzeln und versuchen zudem immer wieder, sich an ihre leiblichen Eltern wie auch an die unmittelbar mit ihrer Adoption zusammenhängenden Ereignisse zu erinnern. Aber irgendwie haben ihre Erinnerungen unerklärliche Löcher, dazu kommen vermehrt unerklärliche Phasen von Zorn und Aggressivität und ähnliche Verhaltensauffälligkeiten. Das ständige Hinterfragen der eigenen Person, der eigenen Biografie wird auf höchst spannende Weise vermittelt. Allerdings bleibt es für die Leser lange unklar bzw. wird immer nur angedeutet, worum es überhaupt geht und was genau die Ursache für die heftigen Belastungen der Kinder sein könnte. Immerhin hilft der enge Zusammenhalt der Geschwister untereinander, damit sie unter dem immensen Psychostress nicht völlig zusammenzubrechen. Die Auflösung, die hier nicht gespoilert werden soll, kommt erst im letzten Fünftel des Buches. Sie hat etwas zu tun mit in einer innovativen Hirntherapie, die so derzeit noch nicht existiert. Da der Autor jedoch davon ausgeht, dass dergleichen in nächster Zukunft denkbar und machbar sein dürfte, hat er die einzelnen Kapitel mit Daten zumeist aus dem Frühjahr 2024 versehen.
Das Buch kann also als eine Art Science Fiction bezeichnet werden, aber es ist gleichermaßen die berührende Geschichte einer (vermeintlichen) Vorzeigefamilie, die im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht brutal auseinandergerissen wird. Zudem hinterfragt das Buch die Bedeutung und Verlässlichkeit einschneidender Erinnerungen und zeigt die möglichen Folgen auf, die bei einer Verdrängung oder einer kompletten Auslöschung der eigenen Vorgeschichte auftreten können. Aus medizinischer bzw. psychotherapeutischer Sicht ist Elsässers Buch recht gut recherchiert; ob das Geschilderte tatsächlich real werden könnte, sei dennoch dahingestellt.
Eine hoch spannende und recht anspruchsvolle Lektüre ist auf jeden Fall garantiert für Leserinnen und Leser ab etwa 14 Jahren, sofern diese mit den vielen Ungewissheiten bis kurz vor Schluss des Buches klar kommen.

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Diese Rezension wurde verfasst von Gerd Klingeberg; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 20.03.2024