Melissa

Autor*in
Gino, Alex
ISBN
978-3-7335-0730-5
Übersetzer*in
Ernst, Alexandra
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
208
Verlag
FISCHER New Media
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Frankfurt am Main
Jahr
2023
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
9,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

George wünscht sich sehnlichst, jemand anderer zu sein. Der Viertklässler fühlt sich falsch in seinem Körper; er weiß, dass er ein Mädchen ist. Seine Familie ahnt nichts davon. Von den Jungen in seiner Klasse wird er wegen seines zumeist eher zurückhaltenden Wesens gemobbt aber Freundin Kelly hält zu ihm. Ein Schultheaterstück bietet indes eine gute Möglichkeit, das auszudrücken, was George in sich fühlt. Ein erster unumkehrbarer Schritt zum befreienden Outing ist getan.

Beurteilungstext

Wie fühlt sich ein Kind, das genau weiß, dass es sich im falschen Körper befindet, aber dies von seiner Umgebung nicht ernsthaft wahrgenommen wird? Alex Gino, laut eigenen Angaben mit nichtbinärer Geschlechtsidentität, hat genügend eigene Erfahrungen, um sie im Buch glaubhaft zu vermitteln.
Der 10-jährige George hat immer mehr das Gefühl, nicht dazuzugehören. Ob etwa beim Sport in der Jungenriege oder, schlimmer noch, auf der Jungentoilette: George fühlt sich zutiefst unwohl. Und mit dem, was zwischen seinen Beinen hängt, möchte er am liebsten gar nichts zu tun haben. Längst hat er sich ausführlich im Internet über die Möglichkeiten informiert, durch Hormonbehandlung die männliche Pubertät zu unterdrücken und später eine operative Geschlechtsumwandlung vornehmen zu lassen. Aber dazu muss er erst seine Eltern überzeugen. Und natürlich auch die Menschen um sich herum. Seine vorsichtigen Andeutungen werden aber immer missverstanden. Seine Mutter glaubt, dass er möglicherweise schwul sei. Oder Transvestit. „Du bist doch erst zehn Jahre alt. Du weißt doch gar nicht, wie du dich in ein paar Jahren fühlst“ ist ihre Argumentation.
Bei einer Schultheateraufführung möchte George unbedingt eine weibliche Hauptrolle übernehmen. Das gelingt nur durch eine Absprache mit Freundin Kelly. Und George legt eine brillante schauspielerische Leistung hin: Irritierend für manche, aber begeisternd für die meisten zuschauenden Eltern, Lehrer und Schüler. Kelly hat George, die sich insgeheim Melissa nennt, längst schon als Mädchen akzeptiert und bietet ihr an, sich mit ihrer schönen Mädchengarderobe einzukleiden und zu schminken. Dann unternehmen die Freundinnen einen unbeschwerten Tagesausflug. Und niemand, der die beiden trifft, zweifelt daran, dass hier zwei nette Mädchen unterwegs sind. Es waren „die besten Tage ihres Lebens. Die besten – bisher“ lautet Melissas Fazit im letzten Satz des Buches.
Auf überaus einfühlsame Weise hat sich Gino einem komplexen Thema genähert. Einprägsam verdeutlicht er die extreme psychische Belastung eines jungen Menschen, der zunehmend feststellt, dass der eigene Körper nicht mit der gefühlten Geschlechtsidentität übereinstimmt. Vieles, was andere als bloße Alltäglichkeiten empfinden, stellt für Transgender-Personen eine starke Belastung dar, etwa die Art der geschlechtsspezifischen Kleidung oder die Benutzung einer öffentlichen Toilette. Manches, was in diesem Zusammenhang unbedacht dahergeredet wird oder vielleicht sogar witzig gemeint ist, wird von Betroffenen als tiefgreifende Verletzung empfunden. Und gerade in der Familie, aber auch im sozialen Umfeld ist es ein langer, schwerer Prozess, sich zu outen, auch weil dies für alle Beteiligten ein völliges Umdenken bedeutet. Gino ist es in beachtlicher Weise gelungen, dies alles in einer eher unspektakulären Geschichte eindringlich zu vermitteln. Es gibt darin eigentlich keine typischen Spannungselemente (wie etwa im Krimi), und dennoch weist das Geschehen einen intensiven, von Anfang bis Ende durchgehenden Spannungsbogen auf.
Es mag irritieren, dass die Hauptperson im Roman erst 10 Jahre alt ist. Aber bereits in diesem Alter sind sich viele Transgender-Personen offenbar schon sicher, im falschen Körper zu stecken, mehr noch: gefangen zu sein. Ein frühes Outing wäre sicher ideal, da so die seelische Belastung verkürzt wird und zudem frühzeitige Hormon-Therapien eine weitere Ausprägung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale wesentlich reduzieren können.
Daher kann dies bereits 2015 in den U.S.A. unter dem Titel „George“ veröffentlichte Buch auch schon für Heranwachsende ab 10 Jahren empfohlen werden, wenn sie direkt oder indirekt mit einer derartigen Problematik konfrontiert werden. Allerdings sollte unbedingt eine kundige Lesebegleitung möglich sein. Das trifft auch zu für die schulische Nutzung, etwa wenn es einen ähnlichen Fall in der Schülerschaft geben sollte. Für interessierte ältere Leserinnen und Leser bietet der Roman ebenfalls an. Abgesehen von seiner spezifischen Thematik ist Ginos Roman aber vor allem ein Aufruf zur Toleranz allen denen gegenüber, die aus unterschiedlichsten Gründen das Gefühl haben sollten, nicht dazuzugehören.
Der Roman, der jetzt als deutsche Neuauflage vorliegt, ist in einer insgesamt gut verständlichen Sprache verfasst. Irritierend ist zunächst, dass für George weibliche Pronomen verwendet werden, die eigentlich nicht zum männlichen Vornamen passen. Damit wird deutlich, dass bestimmte Geschlechtsidentitäten bislang im Deutschen – anders als im Englischen - umgangssprachlich noch nicht adäquat ausgedrückt werden können.

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Diese Rezension wurde verfasst von Gerd Klingeberg; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 26.09.2023