Maulina Schmitt. Ende des Universums

Autor*in
Heinrich, Finn-Ole
ISBN
978-3-446-24627-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Flygenering, Rán
Seitenanzahl
179
Verlag
Hanser
Gattung
Ort
München
Jahr
2014
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
12,90 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Was hat die Sonne mit Maulinas Daumen zu tun? Maulina weiß es! Im Vergleich mit anderen Problemen erscheinen einem die eigenen kleiner - das kann helfen. Wenn aber das eigene Problem der bevorstehende Tod der eigenen Mutter ist, dann muss man sich schon ein gewaltiges Problem im Vergleich suchen - die Explosion der Sonne zum Beispiel. Aber Maulina kann mit ihrem Daumen die Sonne verdecken - für sie sind ihre Probleme so groß wie das Ende des Universums: ""Alles eine Frage der Perspektive.""

Beurteilungstext

Keine Frage der Perspektive scheint hingegen die Frage nach der Preiswürdigkeit des Autors Finn-Ole Heinrich zu sein. ""Das Hamburger Tüddelband 2014"", der ""Deutsch-Französische Jugendliteraturpreis 2014"" oder der ""Deutsche Jugendliteraturpreis 2012"" sind nur drei bedeutende Preise aus einer langen Liste. Und dass Finn-Ole Heinrich die Preise für unterschiedliche Werke bekommen hat, zeigt, dass er keine Eintagsfliege ist. Und soviel schon an dieser Stelle: Man dreht sich um und hofft auf mehr!

Aber wenden wir uns lieber erst einmal Maulina Schmitt zu, schließlich steht sie als Protagonistin auch des dritten Teils im Zentrum des Universums. Der dritte Band ist der Abschluss, der Abschied - eben das Ende des Universums - der Trilogie. Doch bevor der dritte Teil in seiner besonderen Qualität bezeichnet werden soll, muss man als Leser seinen Blick kurz zurückwenden: Der Abschluss ist nicht ohne Anfang und Mitte zu verstehen. Im ersten Teil muss Paulina, die so gut und gerne mault und daher auch Maulina genannt wird, die Trennung ihrer Eltern und den Umzug aus ihrem Königreich ""Mauldawien"" in das hässliche ""Plastikhausen"" verkraften. Dass daran nur der Mann Juri - der mal ihr Vater war - schuld sein kann, ist für Maulina klar. Aber warum sie nach ""Plastikhausen"" ziehen und wieso da so seltsame Griffe z.B. im Bad sind, das ist weniger klar. Dass ihre Mutter unheilbar krank ist, damit muss Maulina nämlich erst im zweiten Teil fertig werden. Aber nicht genug: Angeblich hat sich nicht der Mann (mit dem sie nicht mehr sprechen will) von ihrer Mutter getrennt. Sondern die Mutter von dem Mann. Er soll nicht unter ihrer Krankheit leiden müssen - eine Erklärung, die Maulina nicht akzeptiert. Genauso wenig, wie Maulina akzeptieren kann, dass da eine neue Frau bei dem Mann einzieht. Der Blick zurück lässt schweren Stoff erkennen. Aber - und das ist ein ganz großes ABER - aber dass hier nicht eine einfache Mitleidsprosa geliefert wird, die man ja ach so gut in einen themenzentrierten Literaturunterricht integrieren kann, zeigen neben der Erzählperspektive - zu der ich später noch hinführen will - die vielen ergänzenden Erzählstränge, die sich gekonnt um diesen Hauptstrang winden und sich zu einer Zukunftsperspektive eines (neuen) veränderten Universums verdichten: die Annäherung an den Vater, die neue Frau und deren gemeinsame Kinder; die Freundschaft zu Paul, der es auch nicht gerade leicht hat in seinem Leben; der General für Käse, der außerdem der Vater von dem Mann ist, und nicht zu vergessen das Brauseeis - die Maulplosion!

Und damit haben wir den dritten Teil der Trilogie vor Augen. In diesem Band wird der Hauptstrang um den Tod der Mutter konsequent zu Ende geführt. Ludmilliecilien (benannt nach der polnischen Pflegerin Ludmilla) und der Versuch, die Geschichte einfach anders zu erzählen, können Maulina nicht helfen. Ein echtes Happyend bleibt da aus. Es sei denn: ""Einfach nicht zu Ende lesen. Buch zuklappen."" (S.165). So nämlich funktioniert ein Happyend, weiß Maulina. Aber das Buch geht weiter und die Mutter stirbt: Für Maulina bricht ein Universum zusammen.

Allein was macht dieses Buch nun wirklich zu einer Lesenswürdigkeit? Klingt doch alles bisher Gezeigte sehr nach einem klassischen Themenkinderbuch, nur dass viele Themen abgehandelt werden. Stimmt, die Besonderheit besteht in der Art, wie erzählt wird, und in der sprachlichen Darstellung. ""Was heißt, wie erzählt wird?"", könnte jemand aus der Reisegruppe an der Lesenswürdigkeit ‚Maulina Schmitt' fragen? Gemeint ist die kindliche Perspektive, der kindliche Blick von Maulina, der in seiner perspektivischen Abschattung irritiert, aber gleichzeitig einen so neuen und anderen Blick auf die Welt ermöglicht. Einen naiven und darin auch noch unverblümten und unkonventionellen Blick. Es ist diese konsequent eingehaltene Perspektive, durch die die schweren (und anthropologischen Grund-) Themen neu erzählt werden, ohne mitleidsschwer zu werden. Man muss und darf sogar viel lachen! Die Frage der Perspektive gilt in diesem Buch nicht nur innerfiktional für die Größe der Probleme, sondern eben auch poetologisch für das Erzählen. So traut sich ein Erwachsener nicht über den Tod und andere existenziellen Probleme zu sprechen - aber ein Kind und besonders Maulina. Ohne von Erwachsenen als notwendig erachtete Reduktion, sondern in eigener Sprache.

Maulina nämlich, und damit wenden wir den Blick nach rechts auf die zweite herausragende Besonderheit dieser Lesenswürdigkeit, ist nicht aufs Maul gefallen. Sie versucht, das Unbeschreibliche beschreibbar zu machen, indem sie Wörter erfindet. Gefühle und Beobachtungen müssen da nicht in begriffliche Korsetts gezwängt werden - die kindliche Perspektive (aber auch poetisches Erzählen generell) macht die schöpferische Kraft der Sprache erfahrbar: Die Bilder und der Rhythmus sind es, die diese Lesenswürdigkeit zum Klingen bringen. Die Freiheit der Sprache macht Erfahrungen greifbar, reflektierbar und auch umgänglicher.

Dass das Buch auch in seiner ganzen materiellen Gestaltung keine Grenzen kennt, - das Ende des Universums ist eben grenzenlos und die Erfahrung des Todes der eigenen Eltern erst recht - zeigt der schnelle Wechsel von handschriftlichen Briefen, kleinen Bildergeschichten, typografisch-illustrativen Einschüben, Survival-Tricks (!!!) z.B. zum Feuer machen, Schulaufsätzen und die farbliche Darbietung. Da gibt es keine Ordnung, kein Ruhe, da herrscht Chaos. Darin bietet die Lesenswürdigkeit etwas, das das Hörbuch, wenngleich Sandra Huller Maulina eine wunderbare Stimme verleiht, nicht bieten kann. ""Clever Lesen"", wie der Hörbuch-Gigant ‚Audible' bewirbt, wird eben nicht jeder Lesenswürdigkeit gerecht.

Diese Lesenswürdigkeit hat bisher im Universum der Kinder- und Jugendliteratur nur wenige Konkurrenten. Ein Lesebesuch lohnt sich daher in jedem Falle. Denn was einem geboten wird, ist aus jeder Perspektive eine Bereicherung. Zwar ist das literarische Universum der Maulina Schmitt mit dem dritten Teil abgeschlossen, aber für literarische Steifzüge mit Schülerinnen und Schülern bleibt es in diesem besonderen Buch erhalten und bietet unendlich viele Potentiale: Vorstellungsbildung ausbauen, sprachliche Aufmerksamkeit wahrnehmen und Figurenperspektiven nachvollziehen sind nur drei Aspekte aus Spinners (2006) kanonischem Text ""Literarisches Lernen"", die mit diesem Buch gefördert werden können.

Aber da ist doch ein kleiner Fleck an der Lesenswürdigkeit? Was hat es damit auf sich? Überbordende thematische Vielfalt und Vielsträngigkeit, die in diesem dritten Teil zusammengeführt werden, wurden als besonders gelungen herausgehoben. Da hätte es diesen einkapiteligen Schlenker zur möglichen homosexuellen Neigung von Paul zu Bart einfach nicht mehr gebraucht - der war zu viel. Nicht alle großen Themen müssen checklistenartig abzuhaken sein.
Nun ja: Schwamm drüber. Gehen wir lieber weiter zur nächsten Lesenswürdigkeit von Finn-Ole Heinrich!

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von jhe.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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