Marcelo in the Real World

Autor*in
Stork, Francisco
ISBN
978-3-8414-2122-7
Übersetzer*in
Waldhof, Britta
Ori. Sprache
Amerikanisches Engli
Illustrator*in
Seitenanzahl
363
Verlag
Gattung
Krimi
Ort
Frankfurt/Main
Jahr
2011
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
17,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Marcelo ist Autist mit dem Asperger-Syndrom. Das ist nicht sehr ausgeprägt, aber seine Eltern fördern ihn optimal. Sein Vater, Anwalt, nimmt ihn mit 17 Jahren für kurze Zeit in seine Kanzlei. Er soll nur in der Poststelle arbeiten, gerät aber schnell zwischen die Fronten der leistungsbewussten Anwälte, einem Junior und der attraktiven Sekretärin. Sein Gerechtigkeitsempfinden lässt ihn wachsen, bringt die Kanzlei durcheinander und die Sekretärin auf seine Seite.

Beurteilungstext

Diesen vielschichtigen Roman der Bewältigung einer Behinderung lässt sich unmöglich in 500 Zeichen w.o. beschreiben. Marcelo ist Ich-Erzähler und der Leser braucht eine ganze Weile, um zu verstehen, was für eine Art von Behinderung Marcelo hat. Das hat zwei Gründen: Zum Einen ist Marcelo nicht so behindert, dass er nicht sehr differenziert seine Umgebung wahrnähme und auch über Positionen berichten könnte, die er im ersten Augenblick nicht verstünde. Er ist unfähig, den Gesichtsausdruck anderer zu deuten, genausowenig kann er selbst reaktiv lächeln oder Menschen in die Augen schauen. Körperkontakt ist ihm nahezu unmöglich. Zum Anderen verändert er sich im Verlaufe der Handlung extrem. Seine Behinderung ist anfangs noch sehr stark: Er kann nur reagieren, wenn er Punkt für Punkt die Anforderungen, die an ihn gestellt werden, memoriert und Schritt für Schritt verfolgt. Sein Vater bringt ihn in seine Kanzlei, obwohl Marcelo aus der Ponyfarm, in der er mit Ponys arbeitet, die für behinderte Kinder erzogen werden, nicht weg will. Widerwillig geht er in die Kanzlei, bekommt dort aber Jasmine als Einweiserin, die sich ihm mit sehr viel Empathie stellt, ihn fordert und fördert, schließlich ein enges Verhältnis zu ihm aufbaut. Ihr Gegenpol ist der Sohn des Kompagnons seines Vaters, das absolute Gegenteil Jasmines. Dieser Wendell benutzt ihn, um selbst mehr Freiräume zu haben. Marcelo stößt dabei auf eine Machenschaft der Anwälte, die einen Fabrikanten schützen sollen, dem immense Schadensersatzforderungen drohen. Dass das auf Kosten Dritter gehen soll, kann Marcelo nicht akzeptieren. Gemeinsam mit Jasmine macht er eine Geschädigte ausfindig und sprengt schließlich das Kartell.
Jasmine erweist sich als lebensintensive Musikerin, die mit viel Einfühlungsvermögen Marcelo viel weiter in seiner Entwicklung bringt, als es seine Eltern jetzt noch leisten könnten. Schon immer hatte er Gesprächspartner, die ihm halfen, besonders bei seiner “Spezialbegabung” Religion: Wie viele Asperger hat er ein Gebiet, in dem er praktisch alles auswendig gelernt hat, was es zu wissen gibt: bei ihm ist es die Religion. Er ist Katholik, seine Eltern nur nominell, die Hauptgesprächspartnerin ist aber eine Rabbinerin. Im Gespräch mit ihr wird ihm klar, dass seine Interessen sich am Ende des Buches verlagert haben: Hat er sich bislang mit einem Freund vergleichen können, der alle, aber auch wirklich alle Baseballergebnisse kennt, ebenso wie er alle Textstellen der Bibel sofort benennen und zitieren kann, so ist er jetzt weiter, er erkennt, dass er nicht einfach auswendig gelernt hat, sondern Fragen nachgeht. Aus den Geschichten lernt er für sein Leben. (Also das, was wir von der Literatur erwarten.)
Mit diesem neuen Wissen beginnt er sein Leben, das bislang immer in den gleichen Bahnen verlaufen musste, neu zu sortieren. Jetzt hat auch eine Jasmine ihren Platz darin. Und er in ihrem Leben.
Auch wenn dieser Marcelo nur eine leichte Form des Asperger-Syndroms aufweist - viel leichter als z.B. Forrest Gump -, bleibt diese Art von Behinderung ein auffallendes Merkmal der Betroffenen. Stork beschreibt fantastisch genau, wie sich das Denken der Betroffenen bewegt. Jede Unregelmäßigkeit, jede Häufung von äußeren Einflüssen, also Lärm, Gespräche, viele Menschen etc., bewirken, dass sie sich zurückziehen müssen, verstummen, sich verschließen, einfach, weil sie der Vielfalt von Eindrücken nicht gewachsen sind. Marcelo hat für sich eine Art Musik erfunden, die ihn erfüllt und alle äußeren Eindrücke verschwinden lässt. Erst in der Zusammenarbeit mit Jasmine - und den erwachenden pubertären Veränderungen, er ist 17, verliert seine Musik für ihn an Bedeutung, er kann sich der Welt stellen, er muss sich der Welt stellen, wenn er die selbst gesetzten Ziele, Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, erfüllen will.
Dieser Roman kann eine erhebliche Menge an Verständnis für AS-Patienten erreichen, viel mehr als jedes Gespräch. Aber er zeigt auch, dass jeder, auch der Schwächste, erheblich dazu beitragen kann, Ungerechtigkeiten zu beseitigen. cjh11.11

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010