Lyrik nervt: Erste Hilfe für gestreßte Leser

Autor*in
Thalmayr (Enzensberger), Andreas (Hans Magnus)
ISBN
978-3-446-20448-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
119
Verlag
Hanser
Gattung
Lyrik
Ort
München
Jahr
2004
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
12,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Teaser

Thalmayr versucht, jungen Lyrikverächtern jene verhasste Gattung näher zu bringen.

Beurteilungstext


Hans Magnus Enzensberger veröffentlicht unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr eine Art Arbeitsbuch zur Lyrik für Jugendliche, die sich erfahrungsgemäß häufig nicht sonderlich von jener Gattung angesprochen fühlen. Enzensberger veröffentlichte 1995 mit "Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen Gedichte zu lesen" ein Lyrik-Buch für Erwachsene und zählt seitdem zu den Großen seines Metiers.
"Thalmayr" bemüht sich mit seinem Buch, seiner Zielgruppe, einer Leserschaft zwischen 12 und 20 Jahren, wie es im Klappentext heißt, die Lyrik näher zu bringen. Seine Botschaft ist entsprechend gegensätzlich zum Titel des Buches zu verstehen: Thalmayr glaubt alles andere, als dass Lyrik nerve. Er versucht, junge Skeptiker zu seiner persönlichen Überzeugung zu bekehren.
Dies versucht er hier, indem er dem Leser alle möglichen Vorkommnisse von Lyrik im Alltag des anfänglichen 21. Jahrhunderts präsentiert: Ob in der Werbung, Politik, im Kinderlied oder der Popmusik - überall komme Lyrik vor, womit Thalmayr zweifelsohne recht behält. Dennoch liegt ihm nichts ferner, als anhand zeitgenössischer Beispiele, die für Jugendliche tatsächlich attraktiv sein könnten, die Gattung der Lyrik zu erklären und zu erläutern. Stattdessen beruft er sich weiterhin auf Klassiker von Morgenstern, Goethe und Brecht. Von daher wird es auf den jugendlichen Leser wohl unauthentisch wirken, wenn Thalmayr zwischendurch die "deutsche Combo, genannt Die Phantastischen Vier" (S. 25) anführt. Dem Autor scheint sichtlich nicht wirklich viel an jener Rap-Lyrik zu liegen: Mithilfe einer einschmeichelnden Schreibweise - die sich in Wortwahl und Ausdruck nachempfinden lässt - gibt der Autor selbst zu, dass die Gedichte und Balladen aus früheren Epochen zwar altmodisch sein, aber dennoch "voll reinhauen" (S. 39) würden. Gleichzeitig gibt Thalmayr so zu verstehen, dass er sich nicht wirklich mit heutiger Poplyrik auskennt, zählt er auch Bob Dylan und die Beatles noch dazu.

Thalmayr versucht, sich auf Augenhöhe seiner Leser zu begeben, wirkt aber oft belehrend: Beinahe zwanghaft mutet es an, jeden erwähnten Fachbegriff mit dem Kommentar abzutun, es sei nicht so wichtig sei, ihn zu kennen. Dennoch heißt es im Anschluss - nach ausschweifender Definition z.B.

"Außerdem - außerdem haben wir noch mehr als ein Dutzend weiterer Strophenformen im Katalog. (Klammer auf: Sestinen, Stanzen, Madrigal… Klammer zu) Aber ich sage: Jetzt reicht´s! Wir sind schließlich zu unserem Vergnügen hier, nicht um ein Staatsexamen zu machen."

Obwohl sich Thalmayr selbst darüber erbost, wie in der Schule mit Lyrik umgegangen wird, kehrt er selbst eine herablassende Art heraus, die an alte Schulmeister und Oberlehrer erinnert: Auch wenn gesagt wird, dass es nicht wichtig sei, Fachwörter zu kennen und definieren zu können, heißt es immer wieder im Anschluss "Wer es genau wissen möchte…" (S. 44). Natürlich versteht Thalmayr/ Enzensberger sein Handwerk - allerdings fehlen ihm das nötige fachdidaktische Verständnis und die Vorstellungen von heutiger Jugend und Popkultur, um die gewünschte Wirkung seines Lyrikbandes zu erreichen. Fraglich ist, wie Jugendliche auf jene Arroganz reagieren und ob der gut gemeinte Versuch, bei Jugendlichen Vorurteile gegenüber Lyrik abzubauen, deshalb nicht fehlschlagen muss.

Das Buch ist unübersichtlich strukturiert; selbst die Kapitelbenennungen sind irreführend: Nicht nur Schüler, auch manch Erwachsener wird sich nach der Lektüre dieses Buches vermutlich (wieder) fragen, was unter den Kapiteln "Kannitverstan", "Tanzstunde" oder "Baustelle" zu verstehen ist. Die Fachbegriffe zu Versmaß, Reimen und Strophenformen werden nahezu in willkürlicher Reihenfolge benannt, so dass es schwierig scheint, eine logische Abfolge dahinter zu erkennen. So stellt selbst der Aufbau des Buches nicht die besten Voraussetzungen dafür dar, es als Arbeits- und Lehrbuch zu nutzen. Problematisch wäre aus didaktischer Sicht außerdem, dass Thalmayr "Lyrik nervt" in alter Rechtschreibung, die in deutschen Schulen nicht mehr gelehrt und akzeptiert wird, veröffentlicht hat.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es wünschenswert wäre, Jugendliche mit Lyrik vertrauter machen zu können. Dennoch sei infrage gestellt, ob sich jene Zielsetzung mit diesem Buch erreichen lässt und ob Jugendliche nach seiner Lektüre nicht doch wieder genervt sind - sowohl von Lyrik als auch von Thalmayr…

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Diese Rezension wurde verfasst von HeDa.
Veröffentlicht am 01.01.2010