Lost: In der Wildnis hört dich niemand

Autor*in
McGinnis, Mindy
ISBN
978-3-499-00595-4
Übersetzer*in
Stier, Kattrin
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
232
Verlag
Rowohlt
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Reinbek
Jahr
2022
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,40 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Zwei Mitarbeiter einer Stromgesellschaft in Georgia trauen ihren Augen nicht, als ihnen im Wald plötzlich eine junge Frau in die Arme taumelt: Sie ist ausgemergelt, dreckig, offensichtlich schwer verletzt und trägt, wie der Notarzt später geschockt feststellt, den abgetrennten Teil ihres eigenen Fußes in einer Plastiktüte mit sich herum. Die junge Frau ist die siebzehnjährige Ashley, die vor 15 Tagen im Nachbarbundesstatt Tennessee in den Smoky Mountains verloren gegangen ist.

Beurteilungstext

Was bis zu dieser Begegnung alles passiert ist, das erzählt die US-Amerikanerin Mindy McGinnis in ihrem neuen Roman „Lost. In der Wildnis hört dich niemand“. In ihrer Heimat ist sie bereits erfolgreiche Autorin zahlreicher Jugendromane, die bisher größtenteils nicht auf Deutsch erschienen sind. Ein ziemlicher Verlust, wenn ihre Romane denn alle so überzeugend sind wie „Lost“: Atemlos vorwärts geschrieben (und übrigens in diesem Zusammenhang auch von Kattrin Stier gekonnt übersetzt) erstreckt sich die Story auf knappen 220 Seiten über drei Teile, die McGinnis treffend betitelt in „Teil 1: Bevor ich mich verirrte“, „Teil 2: Als ich mich verirrte“ und „Teil 3: Nachdem ich gefunden wurde“. Im ersten Teil erfahren wir von ihrem Ausflug mit Freunden in den National Park und wie sie sich nachts betrunken beim Pinkeln verirrt. Der zweite Teil nimmt dann die meisten Seiten ein und beschreibt in fünfzehn Kapiteln jeden einzelnen Tag, den Ashley allein in der Wildnis verbringt. An Tag 1 stürzt sie und verletzt sich schwer am Fuß. An Tag 5 amputiert sie sich selbst die entzündeten Zehen. An Tag 14 hat sie die Hoffnung schon fast verloren. Ashley ist dabei alleinige Erzählerin und diese Ich-Perspektive lässt uns als Leser:innen wie getrieben mitlaufen bei ihrem Wettlauf gegen die Zeit.
In ihrem Leben „davor“ war Ashley eine erfolgreiche Athletin im Crosslauf und während ihrer Zeit in der Wildnis erinnert sie sich immer wieder an bestimmte Situationen beim Sport, an Siege und Niederlagen, ihren Trainer, ihre Gegner. Ashleys Überleben ist ein ebensolcher Wettkampf und ihr Siegeswille unerschütterlich: Dieses Rennen muss sie gewinnen, sie wird es gewinnen. Ihr Gegner, ihr Feind, ist dabei nicht die Natur, sondern sie selbst: Denn Ashley ist nicht in Gefahr, weil die Natur gefährlich ist. Sie wird nicht von wilden Tieren angegriffen (abgesehen von einem hungrigen Opossum, das an ihrem verfaulenden Fuß nagt). Die Natur ist die Natur. Ashley ist selbst ihre größte Gefahr, ihr verletztes Bein, ihr entzündeter menschlicher schwacher Körper und die Tatsache, dass sie als Mensch so unheimlich weit weg ist von anderen Menschen, die ihr helfen können.
Mindy McGinnis bricht hier mit dem Klischee des Feindbilds „Mensch gegen Natur“, das andere Survival-Stories so oft bedienen: Ashley fürchtet die Natur nicht. Tatsächlich liest man an keiner Stelle des Romans den Satz „Ich habe Angst.“ Ich fürchte mich vor…“ Nirgends. Ashley kennt die Natur, respektiert sie, beschreibt oft ihre Schönheit, bewundert ihre Gerissenheit:
„Bäume sind Diebe. Sie beklauen dich still und leise, ziehen dir ein Bandana vom Pferdeschwanz oder ein Haargummi vom Handgelenk. Ich habe schon teuerste Sonnenbrillen gesehen, die irgendwo an einem Ahornbaum baumeln, und Wasserflaschen, die von tief hängenden Weidenzweigen mit dürren Fingern heimlich aus den Rucksäcken gezogen werden, während die Wanderer den Verlust erst bemerken, wenn sie die Sachen brauchen.“ (S. 94)
Auf der Plattform „Lovelybooks“ schreibt ein Nutzer, dass ihm in McGinnis´ Geschichte die Emotionen fehlen, Ashley sei „unnatürlich“ taff. Das ist eine spannende Formulierung, denn was ist „natürlich“, was ist „Natur“? Die Natur bestimmt nicht darüber, ob Ashley nach ihrer Verletzung riesige Angst hat und direkt aufgibt, oder ob sie immer weiter und weiter voran humpelt und sich letztendlich einen Teil ihres Fußes amputiert. Die Natur wertet nicht, ist einfach da. Die Emotionen und Qualitäten des Romans liegen gerade in solchen Vergleichen und auch in Ashleys Gedankenreisen in ihr Leben davor, zu ihrem Dad und ihren Freunden, aus denen sie immer wieder Kraft und Motivation schöpfen kann. Sie ist stolz auf ihre Fähigkeiten und weiß, was sie kann. Sie lässt sich nicht unterkriegen und das ist eine Message, von der sich Viele der jugendlichen Zielgruppe, unabhängig der wirklich extremen Situation, sicherlich angesprochen fühlen werden. Dass Ashley es letztendlich schafft zu überleben, hat sie nur sich selbst zu verdanken. Sie hat es allein geschafft: „Ich habe mich selbst zurück gebracht“ (S. 203)
Fazit: „Lost: In der Wildnis hört dich niemand“ ist ein Roman, der sich so liest wie sich ein guter Survival-Action-Thriller guckt: immer sind wir in Bewegung, kämpfen uns mit Ashley vorwärts, beißen mit ihr die Zähne zusammen, sind emotional und auch körperlich ganz nah an ihr dran. Nichts wird verschwiegen oder beschönigt. Ashley nervt, dass sie auch noch ihre Tage hat, ausgerechnet – jetzt vermischt sich der Geruch ihres Blutes mit dem Gestank ihres entzündeten Fußes. Trotzdem lässt uns Mindy McGinnis nicht in all dem Schrecklichen und Ekligen hängen, hier tut das ständige Vorwärtsstreben der Geschichte gut. Kurz und knackig ist sie und ja, auch blutig und eklig. In dieser gekonnten Mischung ist sie auf jeden Fall packend und genau das Richtige für eine jugendliche Zielgruppe, die auf solche Filme steht. Der Roman hat eine Altersempfehlung ab 14 und das ist ob seiner oft drastischen Themen durchaus angemessen. Und würde man das Buch genauso verfilmen wie es geschrieben ist, bräuchte es vielleicht sogar eine FSK 16 – Banderole.

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Diese Rezension wurde verfasst von SJ; Landesstelle: Thüringen.
Veröffentlicht am 01.04.2022

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