Kapitel 2 ist weg!

Schlagwörter

• Komik/Humor
• Sprachspiel

Teaser

Ein Buch, das als Krimi daherkommt, aber nahezu durchgängig ein metafiktionales Spiel mit dem Medium Buch und (Schrift-)Sprache ist.

Beurteilungstext

„Kapitel 1. Das zweite Kapitel ist verschwunden. Gestern war es noch da. […] Jemand hat es gestohlen. Es gibt keine Lösegeldforderung …“ So beginnt dieses Bilderbuch. Es folgt eine Aufforderung an die Leser:innen, Hinweise an Hauptkommissarin McGonagle zu schicken.
Und dann kommt – Kapitel 3. Ja, Kapitel 2 fehlt. Der namenlose Ich-Erzähler (im Bild eine Art Käfer), die Hauptkommissarin (im Bild eine blaugrüne Tierfigur) und der Hausmeister Milo (vielleicht ein gelber Frosch?) sind die Hauptfiguren. Die Geschichte ist eigentlich einfach: Milo hat das 2. Kapitel in Spiegelschrift „auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels versteckt“, da finden wir es als Lesende tatsächlich. Erzählfigur und die Hauptkommissarin ermitteln im Duo und finden das fehlende Kapitel bis zum Schluss nicht; auch, wenn sie Milo als Täter vermuten.
Die Geschichte an sich ist gar nicht besonders wichtig, zumal die Lösung entweder beim Blättern im Buch oder schon in Kapitel 5 offensichtlich wird. In dem Buch wird vielmehr das Erzählen selbst zum Thema gemacht, denn metafiktional gehen die Figuren durch die Kapitel und unterhalten sich über das durch die Kapitel-Gehen. So ordnet McGonagle im 8. Kapitel an, dass sie Ruhe zum Nachdenken brauche und daher in den nächsten drei Kapiteln geschwiegen wird. Wir finden dann auf den nächsten drei Doppelseiten – Kapitel 9, 10 und 11 - auch keinen Text außer der jeweiligen Kapitelbezeichnung. Nach Kapitel 7 hat sich ein Kapitel 45 eingeschlichen, das offensichtlich aus einer ganz anderen Geschichte kommt – im Text wird aber genau das wiederum zum Thema gemacht: „'Also, das gehört eigentlich nicht hierhin`, sagte Weltraumpräsidentin Emmy Sue“ und kommt zu dem Schluss: „Wir ignorieren es einfach. [...] Dann verschwindet es von selbst.“
Die Illustrationen von Nikolai Renger setzen vor allem die handelnden Figuren vor einen flächigen farbigen Hintergrund, ergänzt durch wenige Utensilien, die aber oft den Text ergänzen, selbst metafiktionale Signale enthalten oder ganz eigene Geschichten erzählen. Etwa durch drei Käferfiguren oder Insekten, die durchgängig das Buch begleiten, im Text aber gar nicht vorkommen.
Für sprachwitzaffine Erwachsene ist dieses Buch von vorne bis hinten urkomisch. Wir freuen uns über die Metafiktion, die Absurdität des Erzählten, die Unzuverlässigkeit des Erzählers, die Eigenständigkeit der Figuren in den Bildern – und dabei können wir beim wiederholten Lesen immer Neues entdecken. Kinder lesen dieses Buch anders. Sie verharren vermutlich länger in der Irritation und mögen das Buch nach ein oder zwei Seiten weglegen. Wenn sie aber den metafiktionalen Witz oder die in die Bilder eingebauten lustigen Ergänzungen entdecken, sind sie ebenso begeistert dabei, lachen über Dinge, die die Erwachsenen eher nicht so lustig finden oder gar nicht bemerkt haben, machen sich auf eine Entdeckungsreise und können dabei sehr viel narratologische Erkenntnisse gewinnen. Sehr spannend ist es, Kindern bei der gemeinsamen Lektüre zuzuschauen.
Das Buch ist im amerikanischen Original 2019 unter dem Titel „Chapter two is missing“ mit Bildern von Kevin Cornell erschienen. Die Übersetzungsleistung von Boris Löbsack ist enorm und der Carlsen Verlag hatte offensichtlich ein gutes Händchen, dass sie Nikolai Renger mit einer Neuillustration beauftragt hat – denn sie ist viel besser, viel interessanter und eigenständiger als das amerikanische Original. Ein wirklich tolles Buch, auch für die Arbeit im Deutschunterricht.