In einem alten Haus in Berlin. Ein Streifzug durch 150 Jahre deutsche Geschichte

Autor*in
Wolf, Kathrin
ISBN
978-3-8369-6088-5
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Kreitz, Isabel
Seitenanzahl
64
Verlag
Gerstenberg
Gattung
Bilderbuch
Ort
Hildesheim
Jahr
2023
Lesealter
8-9 Jahre10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Büchereididaktisches MaterialFachliteraturFreizeitlektüreVorlesen
Preis
28,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Ein detailreiches Sachbuch, das Historie für Kinder anschaulich erfahrbar macht.

Beurteilungstext

Das großformatige Sachbilderbuch greift den geschichtswissenschaftlichen Ansatz auf, sich Geschichte aus der Perspektive des Alltags und seiner sich wandelnden Bedeutung für die Bevölkerung zu nähern. Eine Familie zieht 1871 (zur Gründung des Deutschen Reiches) in eine Berliner Großraumwohnung ein. Von hier aus werden die Familienmitglieder 150 Jahre Geschichte erleben und selbst gestalten – entweder, indem Familienmitglieder als Soldaten in den Krieg gehen, das Land verlassen, sich an politisch-kulturellen Umbrüchen beteiligen und diese mitinszenieren. Dafür wechseln sich die Kinder als Erzählende durch die Generationen hindurch ab. Im Wechsel erzählen erst die Kinder von den Umbrüchen und deren Bedeutung für sie als Kinder und für ihre Familie, damit auf der nächsten Seite eine überblicksartige Einordnung dieses Erlebens in die deutsche Geschichte erfolgen kann. Damit wir den Überblick über die sich wandelnde Figuration nicht verlieren, ist am Anfang ein Stammbaum mit gezeichneten Fotografien der Familienmitglieder zugefügt, zu dem man immer wieder zurückblättern und sich über die gerade aktuelle Figur und deren Familienstand zu den vorangegangenen Figuren informieren kann.
Die Illustrationen sind sehr ansprechend, im Comicstil gezeichnet, die Figuren schwarz umrandet und der monoszenische Hintergrund fängt die Atmosphäre der jeweiligen Epoche bzw. ihres Umbruchs gut ein. Auf den Seiten, in denen die kindlich erlebte Geschichte in allgemein-historische Zusammenhänge überführt wird, werden Familienmitglieder szenisch herausgenommen und erzählen jeweils in einem beigefügten Kommentar über ihre Wahrnehmung der historischen Situation. Auf diese Weise entsteht eine Erfahrbarkeit von Historie als Sammelsurium verschiedener Perspektiven. Beigeordnet sind dieser historischen Mehrstimmigkeit kleine gezeichnete Alltagsgegenstände, von denen im Anhang zu lesen ist, dass sie aus dem Fundus des Berliner Stadtmuseums entnommen sind, welches diese Artefakte ausstellt. So entdecken auch die mitlesenden Erwachsenen Alltagsgegenstände ihrer eigenen Biografie wieder oder lernen vielleicht auch zum ersten Mal eine wilhelminische Barttasse für den Mann kennen. Insgesamt entsteht so eine sinnliche Erfahrung von Geschichte auf mehreren Ebenen: Auf der Ebene der Alltagserfahrung, auf der Ebene der Artefakte und auf der Ebene der Geschichtsinterpretation.
Insgesamt ist das Buch eine wertvolle Familienlektüre, um sich mit Kindern über historische Erfahrungen auszutauschen. Auch sind im Unterricht einzelne Seiten aus dem Buch kopier- und einsetzbar, allerdings mit einer Einschränkung, die auch das einzige Manko dieses Buches ist: Die Sprache. Es ist selbstverständlich, dass historische Erfahrung und ihre wissenschaftliche Einordnung ein Fachvokabular benötigt. Dieses ist auch in einem Glossar im Anhang des Buches aufgegriffen und erklärt. Jedoch sind die Satzstrukturen der Überblickstexte ebenso wie die Erklärung des Glossars in einer hypotaktischen Sprache verfasst, die neben dem Fachvokabular eine hohe sprachliche Kompetenz bei bildungssprachlichen Verben und Nominalgruppen aufzeigt. Die vorlesenden Eltern werden bei diesen Überblicktexten immer wieder im Lesen vereinfachen müssen, da sonst das Verständnis nicht möglich ist. Das gilt bereits für Kinder mit einer hohen bildungssprachlichen Kompetenz und muss für Kinder mit einer geringeren Kompetenz noch schwieriger sein oder zur schnellen Frustration an diesen Texten führen. Hier wäre es schön, wenn der Verlag die Überblicksseiten ohne den Text für Lehrkräfte anbieten würde, die diese dann zur mehrperspektivischen Analyse von historischen Zeiträumen einsetzen könnten.
Aber – man kann natürlich beim Vorlesen die Überblicktexte auch weglassen und sich stattdessen nur der erzählten Wahrnehmung der Kinder und dem Betrachten und Besprechen der Alltagsartefakte widmen.

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Diese Rezension wurde verfasst von Astrid Henning-Mohr; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 06.09.2023