Im Land der weißen Schokolade

Autor*in
Dolejs, Martin
ISBN
978-3-7348-5054-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
254
Verlag
Magellan
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Bamberg
Jahr
2021
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
15,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Beurteilungstext

Auf dem deutschen Kinder- und Jugendbuchmarkt gibt es viele Texte, die jungen Leser*innen von der Flucht aus der ehemaligen DDR in die frühere Bundesrepublik erzählen, z.B. „Jenseits der blauen Grenze“ von Dorit Linke oder „Tonspur. Wie ich die Welt von gestern verließ“ von Olaf Hintze und Susanne Krones, „Grenzgänger“ von Alina Sax oder „Mit dem Ballon in die Freiheit“ von Kristen Fulton und Torben Kuhlmann. In „Im Land der weißen Schokolade“ macht Martin Dolejs darauf aufmerksam, dass es in den 1980er Jahren auch vergleichbare Fluchtbewegungen aus der Tschechoslowakei nach Westdeutschland gab. Er legt mit diesem spannenden und witzig erzählten Jugendbuch einen Erinnerungsroman vor, der sich auf eigene, autobiographische Erinnerungen stützt und den Leser*innen einen Einblick in bislang kaum erzählte europäische Geschichte liefert. Der junge Ich-Erzähler ist ambivalent, was die Sehnsucht seines Vaters nach dem Westen betrifft: Er kann sich diesen Westen kaum vorstellen, ist für ihn vor allem an die innere Figuration von Konsumgütern gebunden, an einen Traum von Matchboxautos und weißer Schokolade, die dem Roman dann auch seinen Titel gibt – so zentral markiert sie diesen von den Figuren imaginierten Sehnsuchtsort, der für sie wegen des eisernen Vorhangs unerreichbar ist. Diese Vorstellung vom Paradies des Westens ist durch Übertreibung auf die Spitze getrieben und verleiht der Erzählung eine dominante Komik, durch welche die zuweilen dramatische Fluchterfahrung als überwiegend heitere Story erscheint, deren Darstellung konsequent an die Wahrnehmung des pubertierenden Ich-Erzählers gebunden ist. Der ist so fasziniert von der weißen Schokolade, die er von seinem Freund Patrik erhält, dass er beschließt, sich fortan nur noch von weißer Schokolade zu ernähren. So übernimmt die Schokolade hier die Funktion, die in vielen Narrationen über die DDR die duftenden Intershops innehaben. Doch die linientreue, dem Sozialismus verpflichtete Lehrerin, behauptet strikt, weiße Schokolade gebe es nicht. Martin will ihr das Gegenteil beweisen, packt die verführerischen Schokoladenstückchen in ein Seifenkistchen und bringt dieses mit zur Schule, nicht bedenkend, dass die Süßigkeit nun den Seifengeschmack annimmt. So schmeckt der Westen plötzlich nach Seife, ist verwässert und präsentiert sich als brüchig – eine Erfahrung, die der Protagonist zwar nicht reflektiert, aber insofern ambivalent bleibt, als er sehr in die Pionierleiterin Ivanka verliebt ist, weshalb ihm die Flucht in den Westen emotional einmal mehr schwerfällt. Auch der Vater träumt von Konsum, Reisefreiheit und tollen Autos – so ist auch seine Imagination vom Westen vor allem an Materialität gebunden. Als sie es – unter einigen Turbulenzen – über die Grenze geschafft haben, ruft Martins Vater die in der Tschechoslowakei verbliebene Großmutter an und weint. Aber vertieft werden diese tragischen Gefühle und Ambivalenzen nicht, der Text setzt primär auf Komik und Leichtigkeit in der Erzählweise, entlarvt so den Sehnsuchtsort Westen als brüchig, frei nach dem Motto: Es ist dann doch nicht alles Gold, was glänzt. Durch die Reduktion dieses Sehnsuchtsortes auf Konsumartikel rückt der Text zuweilen in die Nähe der Popliteratur, in der gerade die Nennung von Markenartikeln zum archivierenden Prinzip wird, aber das löst sich auf, als Martin dann tatsächlich in Süddeutschland ankommt, wo er begreift, dass Konsum doch nicht alles ist im Leben. Er vermisst Ivanka, kann sich dies aber nicht eingestehen, zudem hat er durch Turbulenzen am Grenzübergang dort zunächst seine Eltern verloren und kommt alleine bei der Familie des Schleusers unter, die er mit slapstickartiger Komik beschreibt und sowohl die Figuren als auch die Sprachbarrieren untereinander der Lächerlichkeit preisgibt.
Ein sehr lesenswerter und höchst empfehlenswerter Jugendroman, der ein bislang kinderliterarisch unterbelichtetes Moment europäischer Geschichte beleuchtet und damit auch einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Gedächtnisbildung in Bezug auf die Zeit des Kalten Krieges leistet.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Kirsten Kumschlies; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 01.06.2022