Ihr sollt nicht schweigen

Autor*in
McCauley, Kyrie
ISBN
978-3-423-74102-6
Übersetzer*in
Gutzschhahn, Uwe-Michael
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Seitenanzahl
349
Verlag
dtv
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
München
Jahr
2023
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
16,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Das Unvorstellbare ist geschehen: Nico ist mit einer Waffe in die Schule gekommen und hat Cassie erschossen – das Mädchen, mit dem er zusammen war. Eine andere Schülerin hat er schwer verletzt, bevor er sich selbst das Leben nahm. Wirklich nur eine Teenager-Tragödie? Oder vielmehr Sinnbild einer Gesellschaft, in der Waffen zum Selbstverständnis gehören und Gewalt gegen Frauen ignoriert wird? McCauley stellt sich diesen Fragen und erzählt eine Geschichte über Tragik, Mut und Aufbegehren gegen scheinbar unumstößliche Gewissheiten.

Beurteilungstext

Cassandra, genannt Cassie, das lebensfrohe Mädchen mit dem großen Schauspieltalent, ist in ihrer Klasse erschossen worden. Mit Nico, dem Täter, der sich nach dem Mord selbst richtete, war sie zusammen. Aber Cassie wollte sich trennen, nachdem Gewalt, Bevormundung, Eifersucht und egoistische Besitzgier bei Nico immer dominanter geworden waren. Ihre Versuche, ihn anzuzeigen und ein Kontaktverbot zu erreichen, waren erfolglos. Das wunderte kaum jemanden in der US-amerikanischen Kleinstadt – schließlich war er der Sohn des Besitzers von „Bell Firearms“, der Waffenfabrik, der die Stadt quasi gehört und die der größte Arbeitsgeber der Region ist. Cassies beste Freundinnen Vivian (die selbst bei dem Shooting schwer verletzt wurde) und Beck wollen sich nicht damit abfinden, dass die Stadt zur Tagesordnung übergeht und die Bluttat als eine Art „Romeo- und Julia-Geschichte“ interpretiert. Sie wollen nicht akzeptieren, dass die Gewalt, die Männer ihren Freundinnen oder Ehefrauen antun, oft nicht gesühnt und nicht einmal wahrgenommen wird. Sie wollen nicht länger in einer Gesellschaft leben, in der das Recht, Waffen zu kaufen, zu besitzen und zu benutzen, als unveräußerliche staatsbürgerliche Errungenschaft angesehen wird. Sie entschließen sich, die Öffentlichkeit aufzurütteln und an Cassie zu erinnern. Dafür nutzen sie Becks überragendes künstlerisches Talent – sie bringen an öffentlichen Orten eine Reihe von gesprayten Wandbildern an, die in allegorisierter Form von Cassies Leben berichten, von ihren Ängsten, von ihren Hoffnungen, von ihrem Tod. Ihnen ist bewusst, dass sie etwas begehen, was nach dem Gesetz strafbar ist, dass sie sich „Vandalismus“ zu Schulden kommen lassen, dass sie sich viele Feinde machen werden in einer Stadt, in der die Waffenfabrik "Bell" so dominant ist, dass sie der Stadt selbst den Namen gegeben hat. Die Mädchen agieren sehr vorsichtig; dennoch begeben sie sich in Gefahr. Doch die Verpflichtung, zu kämpfen und sich dafür einzusetzen, dass nicht andere Mädchen und Frauen ein ähnliches Schicksal wie ihre beste Freundin erleiden, spüren sie als Ansporn. Die Bilder posten sie in sozialen Netzwerken und verlinken sie mit Seiten von Initiativen für strengere Waffengesetze. Unerwartete Hilfe bekommen sie von der Macherin eines Podcasts gegen Gewalt an Frauen, die mit journalistischen Mitteln an ihrer Seite kämpft. Auch einige Freunde unterstützen sie. Vivian und Beck erreichen viel – sie schaffen es, eine öffentliche Debatte über Waffenbesitz und Gewalt zu initiieren. Was sie ganz besonders antreibt und motiviert – ihre tote Freundin erscheint ihnen als ruheloser Geist, spricht mit ihnen und befähigt sie nicht zuletzt, ihre Trauer zu überwinden und auch sich gegenseitig als wirkliche Freundinnen zu akzeptieren.
Die junge amerikanische Autorin Kyrie McCauley hat ein bemerkenswertes, ein überwältigendes Jugendbuch verfasst. Die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich ihrem komplexen Thema nähert, ist sehr überzeugend. Sie zeigt auf, wie Gewalt gegen Mädchen und Frauen entsteht, warum sie noch immer teilweise ignoriert und klein geredet wird, warum die Opfer zu wenig Hilfe und die Täter viel zu viel Nachsicht erhalten. Vor allem zeigt McCauley eindrucksvoll, wie toxisch dieses strukturelle Gewaltproblem wird, wenn noch dazu Waffen frei verfügbar sind. Die Protagonistinnen ihres Buches sind ausgezeichnet charakterisiert, sie erstehen als vielschichtige und auch widersprüchliche Persönlichkeiten – die raue, oft wütende Beck mit dem kranken Großvater, bei dem sie lebt und dem großen Talent als bildende Künstlerin; Vivian, die immer zu den besten in der Highschool gehörte und alles daran setzte, ihren Traum eines Medizinstudiums in die Realität zu überführen; aber auch die tote Cassie, das Mädchen, dessen Lachen ansteckend war, die so gut auf der Bühne war und die beiden gegensätzlichen Charaktere ihrer Freundinnen immer wieder zusammenführen konnte (und auch nach ihrem Tod noch kann). Die Entschlossenheit, mit der Beck und Vivian ihren Plan realisieren, mit ihren Bildern ein Zeichen zu setzen, eine Diskussion in Gang zu bringen, das Übergehen zur „Tagesordnung“ zu verhindern, ist glaubwürdig dargestellt. Die Sprache ist klar und dennoch reich an Bildern; auch auf die ausgezeichnete Übersetzung sei verwiesen. Der Roman verfügt über eine komplizierte Struktur: Kapitel aus der Perspektive von Vivian und Beck wechseln mit solchen ab, in denen Cassie in einer Art Gedichtform die Vergangenheit darstellt und die Gegenwart kommentiert; daneben sind immer wieder Kapitel aus dem Podcast „We can be heros“ eingefügt. Der Aufbau folgt den insgesamt sieben Bildern, die Beck erschafft und die jeweils eine weibliche Figur aus der griechischen Mythologie mit Cassies Geschichte verbinden. Dennoch ist das Buch flüssig zu lesen, es entwickelt einen starken „Sog“. McCauley vermag, sensibel und einfühlsam zu erzählen, ohne kitschig zu werden. Abgeschlossen wird das Buch mit einem ausführlichen Verzeichnis von Anlaufstellen für Opfer von Gewalt.

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Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 09.09.2023