Ich bin V wie Vincent

Autor*in
Hutzenlaub, Lucinde
ISBN
978-3-522-50629-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
287
Verlag
Thienemann
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Stuttgart
Jahr
2019
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
13,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Teaser

Neue Heimat, neue Schule, neue Klasse – ein Roman über die Eingewöhnung eines Heranwachsenden in eine neue Umgebung. Das schreit ja förmlich nach Problemen. Eine Geschichte über Milo, der sich in einer Klasse zurechtfinden muss, in der Mobbing an der Tagesordnung steht. Und was er dagegen plant zu tun, lässt sich auf 287 Seiten verfolgen.

Beurteilungstext

„Ich hatte Angst, in die Schule zu gehen. Von der Schule nach Hause. Und ich begann, die Ablehnung meiner Klassenkameraden zu verstehen. Schließlich lehnte ich mich selbst ab.“ Lucinde Hutzenlaub, die Autorin von „Ich bin V wie Vincent“, schreibt, sie berühre dieses Thema besonders, weil es ihr selbst einmal so erging.

Mobbing wurde schon tausende Male in Büchern fiktional aufbereitet und ist sicherlich eines der Themen, die niemals von der Bild- und Lesefläche verschwinden dürfen. Allgegenwärtig und das ganz unabhängig von Generationen. Allumfassend in der Adoleszenzphase und deshalb von solch einer Brisanz, dass dieses Thema unumstritten in Coming-of-Age-Romane verpackt werden muss.

Hutzenlaub widmet sich also dem Thema und erfindet Milo, einen Jugendlichen, der erst kürzlich aus seiner Heimat Namibia mit seiner Familie nach Deutschland gezogen ist. Die Lage wird schnell klar: Die Ängste eines Schulwechsels in eine bestehende Klassengemeinschaft und das Heimweh sind ja grundsätzlich keine Traumkombination für einen Heranwachsenden. Beides zu überwinden, dabei bleibt es nicht. Max kommt ins Spiel – ein Choleriker mit Impulskontrollstörung. Milo verliebt sich in Nike, das schönste Mädchen der Klasse. Milo wird zur Zielscheibe von Max. Nike mag Milo, wird aber wiederum von Max erpresst und Carl, Milos Bruder, wechselt zur dunklen Seite. Milo will etwas tun. Er beschließt also kurzerhand, via YouTube von seinen Erlebnissen zu berichten und zu mehr Zivilcourage aufzurufen – allerdings anonym und maskiert, ganz im Zeichen einer Rebellion mit der Guy-Fawkes-Maske aus seinem Lieblingsfilm „V wie Vendetta“.

Welche Themenvielfalt dieses Werk bietet, kann man sich wohl denken. Auf 287 Seiten gepresst geht es also um so Einiges, was in einem Heranwachsenden-Hirn herumschwirrt: die erste große Liebe, die ersten Rauschzustände, Freundschaften, der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit, Social-Media, Diskrepanzen in der Familie, Identitätsfindung und nicht zuletzt die Angst davor, abgewiesen zu werden. Die Liste könnte ewig weitergehen. Bereits hier wird deutlich, wie schwer es ist, all das in einem einzigen Buch zum Thema zu machen, wofür die Forschung Jahrzehnte brauchte und immer noch braucht. Gut, wenn man das einem Buch nicht anmerkt. Hier ist das allerdings nicht ganz gelungen.

Beim Lesen erhärtet sich eher der Eindruck, dass Themen lediglich oberflächlich angeschnitten werden und einer Kategorisierung in eine strikte Gut-Böse-Unterscheidung unterliegen. Rauchen und Rap-Hören werden beispielsweise in inneren Monologen vom Helden der Geschichte den Schlägertypen zugeordnet oder als Zeichen schlechter Bewältigungsstrategien gedeutet. Wer vernünftig ist, hört Woodstock und Klassik oder schaut gesellschaftskritische Filme zum Runterkommen. Insgesamt werden ausschließlich von den „vernünftigen“ Charakteren der Geschichte Menschen und ihr Verhalten beurteilt und zugleich kategorisch in gut oder böse, schön oder hässlich eingeordnet. Diese Art von Kategorisierungen könnte ebenso zu dem Schwarz-Weiß-Denken führen, das die Autorin laut Nachwort mit ihrem Buch versucht zu beenden. Kaum eine Figur im Buch durchläuft eine Weiterentwicklung – bis auf eine Ausnahme. Die Charaktere bleiben mehr oder weniger statisch in ihren Rollen gefangen. Durch die gewählte Art der Charakterzeichnung fehlt es dem Buch stellenweise an Tiefe und Nachvollziehbarkeit.

Interessant ist allerdings der Erzählstil von Hutzenlaub. Er ist multiperspektivisch und dabei trotzdem eine personale Erzählweise. Angedeutet werden diese wechselnden Passagen mit dem Namen der beiden Hauptcharaktere als Überschriften. Insofern gibt es eine klare Erzählstruktur, die sich chronologisch auf die Ereignisse bezieht. Vor- und Rückbezüge oder größere Zeitsprünge gibt es nicht. Die überwiegend zeitdeckende Erzählung wird durch direkte Rede unterstützt. Alle Textpassagen spielen also im unmittelbaren Geschehen. Die Geschichte dreht sich zeitlich um die Eingewöhnungsphase des „Neuen“, also Milo. Der zeitliche Fokus wird demnach deutlich umrissen. Leider muss auch hier gesagt werden, dass die abwechselnden Erzählperspektiven ihr Ziel leicht verfehlen, dem/der Leser/in diesen Perspektivwechsel zu ermöglichen. Durch die Form wird zwar das Lesen aufgelockert, stilistisch lässt sich aber kein Unterschied zwischen den beiden Charakteren erkennen. Die Erzählhaltung bleibt innerhalb der Perspektiven gleich und zeichnet damit keine unterschiedlichen Charaktere aus. Die Charaktere denken, handeln und sprechen in ähnlicher Weise. Allein die Überschriften weisen darauf hin, dass ein Perspektivwechsel folgt. Die Verwendung einfacher und gefühlsbetonter Sprache hingegen unterstützt dabei, dem Spannungsbogen schnell folgen zu wollen, den Hutzenlaub trotz der Charakterzeichnungen, die an mehr als einigen Stellen zu wünschen übriglassen, erfolgreich aufbaut und den Willen erwecken „Ich bin V wie Vincent“ zu Ende lesen zu wollen.

Was allerdings auch gesagt werden muss, ist – und das ist einer der Pluspunkte von Hutzenlaubs Buch –, dass es thematisch überaus viel zu bieten hat. Für eine pädagogische Relevanz lassen sich einige Potenziale ableiten und nutzbar machen. Die Vermittlung von Medienkompetenz und Netzsicherheit, Mobbing, Mut und Zivilcourage sind nur einige der Punkte, die sich thematisch gut für Unterrichtseinheiten in den Fächern Deutsch oder Ethik aufbereiten lassen. Und nicht zuletzt ist hier das zu nennen, was sich intertextuell durch das gesamte Buch zieht: eine Filmbesprechung des Films „V wie Vendetta“. Was YouTube als Videoportal für Möglichkeiten eröffnet, die sich ebenfalls gut in den Unterricht einbauen lassen, liegt auf der Hand. Die verwendeten Hashtags und ein YouTube-Kanal existieren sogar in Wirklichkeit. Weiterhin stellt der Thienemann-Esslinger Verlag auf seiner Homepage Materialen zur Verfügung, geeignet für den Unterricht von der siebten bis zur neunten Klasse.

Deutlich wird, dass bei dem Buch ein pädagogisches Konzept mit Themen, mit denen sich Heranwachsende konfrontiert sehen, mitgedacht und zugrunde gelegt wurde. Dabei ist literarisch gesehen einiges auf der Strecke geblieben, was stellenweise zu Oberflächlichkeit und Stereotypen führt. Das wiederum trübt die Einsatzfähigkeit Hutzenlaubs Buch in pädagogischen Kontexten immens.

Johanna Schlösser

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von gre; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 02.01.2020

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