Hesmats Flucht. Eine wahre Geschichte aus Afghanistan

Autor*in
Böhmer, Wolfgang
ISBN
978-3-570-40300-6
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
290
Verlag
cbj/cbt
Gattung
Sachliteratur
Ort
München
Jahr
2022
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
10,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der Tatsachenbericht schildert die Flucht des afghanischen Waisen Hesmat aus seinem unter dem Vorrücken der Taliban leidenden Heimatland nach Europa. Obwohl die Handlung im Jahre 2001 angesiedelt ist und das Buch in der ersten Ausgabe bereits 2008 erschien, hat es nichts an Aktualität verloren – ein paradigmatischer Bericht über die Gründe, die Menschen zur Flucht veranlassen; verfasst in zugleich nüchterner und fesselnd-empathischer Sprache.

Beurteilungstext

Hesmat ist elf Jahre alt – ein Kind. Er sollte die Schule besuchen, spielen, sich mit den Eltern streiten und mit den Freunden harmlose Jungens-Abenteuer erleben. Hesmat kann nichts davon tun – er erlebt und erleidet die „Hölle auf Erden“.
Seine Eltern sind tot. Die Mutter starb jung an einer schweren Krankheit. Der Vater hatte während der sowjetischen Invasion in Afghanistan den Besatzern gedient; nach deren Abzug gerät er zunehmend unter Druck und wird schließlich ermordet. Sein Großvater, ein bigotter Frömmler, hasst den Jungen und bevormundet ihn. Hesmat wird zu einer Tante nach Kabul geschickt, weil er ein zu großes Sicherheitsrisiko für die Familie darstelle. Dem Jungen wird zunehmend klar, dass er in Afghanistan keine Zukunft hat, dass sogar sein Leben als „Sohn eines Verräters“ bedroht ist. Er entschließt sich zur Flucht, ein Freund der Eltern berät ihn und hilft ihm deren Haus zu verkaufen, um das nötige Geld zusammenzubringen. Schließlich verlässt Hesmat seine Heimatstadt Mazar-e Sharif im Norden des Landes – Beginn einer Odyssee über beinahe ein Jahr. Hesmat ist zunächst mit Autos und zu Fuß unterwegs; es dauert allein Wochen, bis er die Grenze zu Tadschikistan erreicht. Mit dem Zug versucht er weiterzukommen – mehrere Versuche scheitern, weil er entdeckt und verhaftet wird. Der Junge erleidet während der Flucht unvorstellbare Qualen: Er hungert und friert; wird von brutalen Polizisten geschlagen, erniedrigt und zu Zwangsarbeiten gezwungen; von anderen Flüchtlingen beschimpft und bestohlen; von Mithäftlingen mit Vergewaltigung bedroht. Besonders perfide sind die Schlepper, die keinerlei Mitleid zeigen und häufig die Verpflichtungen, die sie bei der Bezahlung eingegangen sind, nicht erfüllen. Aber Hesmat lernt auch Menschen kennen, die ihm helfen, die Menschlichkeit und Wärme zeigen. Er findet sogar einen Freund – Fahid, einige Jahre älter, der ihm ein älterer Bruder wird, ihn mit seinem Optimismus und Lebenswitz mitreißt und immer für ihn da ist. Eine der fürchterlichsten und besonders berührenden Stellen des Buches schildert, wie sich Hesmat und Fahid in einem Zug in einem engen Verschlag vor Kontrolleuren verstecken müssen – Fahid stirbt dabei neben seinem Freund, vermutlich erstickt er. Für Hesmat bricht eine Welt zusammen und er quält sich mit Vorwürfen, ob er dem Freund besser hätte helfen können. Dass der Leichnam des Jugendlichen von Mitreisenden einfach aus dem Zugfenster geworfen wird, zeigt in eindringlicher Weise die Welt aus Gesetzlosigkeit, Unmoral, Gleichgültigkeit und Brutalität, denen die Kinder ausgesetzt sind. Über Usbekistan und Kasachstan erreicht Hesmat Moskau, wo er einen Bekannten findet, der ihm hilft und die weitere Flucht organisiert – nicht besonders erfolgreich. Der Junge erlebt weitere fürchterliche Monate in Weißrussland und der Ukraine, Ungarn und der Slowakei, bevor ihm endlich der Grenzübertritt nach Österreich gelingt. Die Flucht hat annähernd ein Jahr gedauert. Im Nachwort berichtet der Autor, dass Hesmat Aufnahme in einem österreichischen SOS-Kinderdorf fand, eine Ausbildung zum Elektriker machen konnte und nach wie vor im Westen lebt.
Das Buch des österreichischen Journalisten Wolfgang Böhmer erschien zuerst vor beinahe 15 Jahren. Die Zeit der Handlung von Hesmats Flucht wird nicht eindeutig im Text benannt – aus Hinweisen (die Machtübernahme der Taliban in beinahe ganz Afghanistan, die Ermordung des Anführers der afghanischen Nordallianz Massoud und die Terroranschläge des 11. September) lässt sich allerdings rekonstruieren, dass der Junge vom Frühjahr 2001 bis zum Januar 2002 unterwegs war. Dennoch ist das Werk in keiner Weise veraltet oder überholt; es liegt nun in einer Neuauflage vor. Nicht nur, dass die Leidensgeschichte des Landes, vor allem nach dem Abzug der westlichen Truppen 2021, unvermindert weitergeht – vor allem ist das Schicksal des afghanischen Waisenkindes eines, dass sich heute millionenfach wiederholt. Böhmer gelingt die beispielhafte Darstellung der mannigfachen Ursachen, die Menschen veranlassen, ihre Heimat zu verlassen; die Hoffnungen und Wünsche, die sie antreiben; die Mechanismen und Abläufe der Migrationsbewegungen. Auch die Verhaltensweise der vielen direkt und mittelbar Beteiligten schildert der Autor präzise – die der Flüchtenden wie der Helfer, der Angehörigen der Sicherheitsorgane, der Schlepper und der Menschen in den Ländern, die die Gestrandeten erreichen. Böhmer schreibt ebenso anschaulich wie mitreißend, nicht beschönigend, voller Empathie für seinen Protagonisten, aber ohne jeden Kitsch. Die Hintergründe zur politischen Situation und deren Auswirkungen auf die Lebensumstände der Einwohner Afghanistans sind gründlich recherchiert und werden, oft auch in Rückblenden, plastisch beschrieben. Auch die geografischen Details der Fluchtroute sind sehr anschaulich dargestellt. Eine Zeittafel und eine Karte der Route ergänzen das Buch.

Anmerkung

Das Buch ist in höchstem Maß empfehlenswert, auch für Projekte zu den Themengebieten Flucht und Vertreibung sowie lokale und globale Krisen. Allerdings benötigen jüngere Leser vermutlich Unterstützung durch Gespräche über das Gelesene; vor allem wenn es um die Bewältigung der vielen unbeschreiblich grausamen Details geht.

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Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 17.06.2022