Helle Tage - helle Nächte

Autor*in
Baier, Hiltrud
ISBN
978-3-8398-1666-0
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Sprecher*in
Umfang
401  Minuten
Verlag
Gattung
AudioErzählung/Roman
Ort
Frankfurt/Main
Jahr
2018
Alters­empfehlung
16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
19,95 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Die Diagnose ist unumstößlich und endgültig – Anna Albinger hat Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Sie weiß nicht, ob sie den Herbst nochmals erleben wird. Daher packt sie das an, was sie schon längst hätte tun müssen. Sie schreibt zwei Briefe und bittet ihre Nichte, nach Lappland zu fahren.

Beurteilungstext

Anna ist vor sieben Jahren in ihren Geburtsort Beuren, am Rande der Schwäbischen Alb, zurückgezogen. Sie lebt dort recht einsam, hat wenig Kontakt zu den Nachbarn, die sie als freundliche und ruhige Person kennen. Fast regelmäßig besucht Anna die Burg am Rande des Albtrauf, wie sie es mit ihren Eltern und ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Marie in der Jugend getan hat. Schon früher gehörte ihre Familie eher zu den Außenseitern des Ortes, ihre Mutter war Samin und dem Vater nach dem Krieg aus Liebe und wegen eines ungeborenen Kindes hierher gefolgt. Der Vater hatte im zweiten Weltkrieg als Soldat in Norwegen gedient, war gegen Kriegsende desertiert und nach Lappland geflohen. Dort stieß er auf ein samisches Mädchen, das ihn wochenlang versteckte und sich in ihn verliebte. Gegen den Widerstand ihrer Familie heirateten sie und zogen nach Deutschland. Doch die Mutter fühlte sich hier nie wohl, sie starb früh an gebrochenem Herzen. Der Vater verkraftete den Tod der Ehefrau nicht und ertränkte seinen Schmerz in Alkohol. Als Marie bei einem Autounfall ums Leben kam, brach sein Lebenswillen. Im gleichen Jahr starb Maries Ehemann Georg. Deren Tochter Frederike wurde von Anna aufgenommen und mit aller Liebe erzogen.
Anna war diejenige, die ein Jahr nach dem Tod ihrer Mutter zu dem kleinen Ort reisen wollte, an dem ihre Großeltern eine kleine Torfhütte besessen und die Sommermonate verbracht hatten. Sie überredete Marie, dass sie zu zweit fahren sollten. Auf der Suche nach Informationen über ihre Großeltern trafen sie mit dem wenige Jahre älteren Rentierzüchter Petr zusammen. Anna bemerkte sofort, dass Marie, die gerade die Beziehung zu Georg begonnen hatte, das Interesse Petrs gewann, während sie wie immer keine Beachtung fand. Dabei war es für sie Liebe auf den ersten Blick.
Als Anna fünfzig Jahre später erfährt, dass sie unheilbar an Krebs erkrankt, fasst sie einen Beschluss: Über viele Jahrzehnte hat sie die Menschen, die ihr nahestanden und ihre Liebsten waren, belogen, hinters Licht geführt und damit Schuld auf sich geladen. Sie will, bevor sie stirbt, reinen Tisch machen, auch wenn sie weiß, dass dies möglicherweise die Beziehung zu den für sie wertvollsten Menschen kosten kann. Aber die Wahrheit muss auf den Tisch, so bitter sie auch sein mag. Daher schreibt sie einen Brief an Petr und bittet ihre Nichte Frederike, diesen persönlich zu überbringen. Frederike startet erst, nachdem Anna ihr zugesichert hat, ihre Krebserkrankung behandeln zu lassen. Eine lange und beschwerliche Reise in ihrem rotem VW-Bus beginnt, doch am Ziel angekommen, erfährt Frederike, dass Petr bereits in den Bergen bei seinen Rentieren ist und erst in einigen Monaten zurück sein wird. Sie hat keine Lust zu warten, was sie ziemlich unwirsch Anna am Telefon mitteilt. Diese bittet sie inständig, in die Berge weiterzufahren, erklärt aber nicht, worum es geht. Frederike ‚drückt‘ sie verärgert weg. Das ist das letzte Lebenszeichen, das Anna von ihr hat, danach herrscht absolute Funkstille – über endlos lange Wochen hinweg. Anna zieht die entsprechenden Schlüsse, nun hat sie beide verloren: sowohl Petr als auch Frederike. Vielleicht ist Frederike doch gefahren und die beiden haben den Brief geöffnet? Fragen über Fragen, doch der Alltag geht weiter, irgendwie ….
Die Geschichte führt durch die wechselnde Perspektive der beiden Frauen tief in deren Gefühle hinein, beide haben früh Verluste erfahren, die nie ausgeglichen werden konnten, obwohl sie dies selbst nicht wahrnahmen. Annas Kindheit ist von der Eifersucht auf die lebenslustige jüngere Schwester geprägt, sie musste immer die Große und Vernünftige sein, Umarmungen oder Kuscheleinheiten hat sie von ihren Eltern nie erlebt. Frederike wächst bei Anna auf, nachdem sie ihre Eltern innerhalb eines Jahres verloren hat, es mangelt ihr an nichts, Anna bietet ihr alle Chancen. Doch vielleicht spürt sie die Eifersucht der Tante auf die glorifizierte Schwester bzw. Mutter. Anna, dies erkennt der Leser und Zuhörer, tut sich schwer im Umgang mit Männern, den Nachbarn Karl weist sie spröde zurück, was ihr nach einiger Zeit leid tut. Ihre – angesichts des nahen Todes – sich selbst verordnete Aufrichtigkeit passt zu ihrer ‚kantigen‘ Art. Anna hat ihren Platz zwar gefunden, ist aber nie zufrieden mit sich. Und immer wieder dreht sich alles um den familiären Ausgangspunkt, um den kleinen Ort Beuren, in dem sie unter ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, an den sie nach einem längeren Aufenthalt in Stuttgart zurückkehrt. Die Welt erlebt hat sie nie, sie ist immer in eine Traumwelt geflohen.
Das Buch berührt in seiner Eindrücklichkeit, die das Menschliche und Mitmenschliche mit der selbstkritischen Brille der Todgeweihten betrachtet und widerspiegelt. Die Wahl der beiden Vortragenden ist gut getroffen, da deren Altersunterschied mit denen der Protagonistinnen übereinstimmen mag und das Tempre der Stimmen die Gesetztheit des Alters von der Lebhaftigkeit der Jüngeren unterscheidet. Der Umschwung der Handlung der letzten Seiten erscheint ein wenig plötzlich, als wenn die Einsamkeit der Landschaft alle seelischen Verwundungen heilen würde. Hier wirkt das Pathos für die Wahlheimat der Autorin etwas dick aufgetragen, es bleibt ein stark touristisch geprägtes Bild Lapplands zurück, das die existenziellen Sorgen der Samen (leider) nicht aufgreift.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Veröffentlicht am 21.09.2018

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