Fritzi. Eine Wendewundergeschichte

Autor*in
Bruhn, MatthiasKukula, Ralf
ISBN
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in / Sprecher*in
Umfang
86  Minuten
Verlag
Gattung
Erzählung/RomanFilm
Ort
-
Jahr
2020
Alters­empfehlung
6-7 Jahre8-9 Jahre10-11 Jahre12-13 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Klassenlektüre
Preis
12,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Leipzig im Spätsommer/Herbst 1989: die 12-jährige Fritzi erfährt, dass der Urlaub ihrer besten Freundin und deren Mutter in Ungarn nicht als Urlaub geplant war, sondern als Chance die DDR zu verlassen. Nun bleibt ihr nur noch der Hund Sophies, um den sich Fritzi während des Urlaubs kümmern sollte. Diesen möchte sie zurück zur Freundin in den Westen zu bringen. Während sie diesen Wunsch zu realisieren versucht, erfährt sie viel über das Land, in dem sie lebt.

Beurteilungstext

Am 7. Oktober 2019 feierte die lange angekündigte Verfilmung der Erzählung von "Fritzi war dabei" (Hanna Schott 2009 im Leipziger Klett Kinderbuchverlag) in der Leipziger Nikolaikirche Premiere. Aus der vergleichsweise nüchternen Kinderreportage ist ein spannender und emotionaler Kinder- und Familienfilm geworden, der die friedliche Revolution für heutige Kinder veranschaulicht. Dabei ist es nicht der erste Kinderfilm über die Wende, wohl aber der, der aufgrund seines Veröffentlichungsdatums große Aufmerksamkeit erfährt und über die Vermittlung von Zeitgeschichte im Animationsfilm eine besondere Ästhetik entwickelt.

Für den Film wurden verschiedene Aspekte der Erzählung ausgebaut und dramatisiert. So ist die Protagonistin im Film keine Viertklässlerin mehr, sondern zwölf Jahre alt und bereits in der sechsten oder siebenten Klasse. Beginnt die Erzählung am ersten Tag nach den Sommerferien, setzt die filmische Narration mit den Sommerferien ein. Auch wenn Fritzi in der Erzählung zunehmend reflektierter denkt, erscheint ihr Wesen im Film deutlich reifer; mit zwölf befindet sie sich in der Phase der Pubertät und beginnenden Adoleszenz. Dies wiederum legt die Basis dafür, dass die Protagonistin im Film deutlich widerständiger agiert: Sie trägt intensivere Konflikte mit ihren Eltern und der Lehrerin aus; mit dem Mitschüler Bela verbindet sie ein erstes Verliebtsein.
Der Beginn des Films zeigt die Protagonistin gemeinsam mit einem anderen Mädchen in ihrem Baumhaus. In der Erzählung war Sophie lediglich eine Mitschülerin Fritzis, die am ersten September nicht mehr in der Schule auftaucht, weil sie mit ihren Eltern in Ungarn ist. Im Film verabschiedet sich Sophie – nun beste Freundin Fritzis – in den Sommerurlaub: Sie fährt mit ihrer Mutter nach Ungarn. Was die beiden Mädchen noch nicht wissen: Die Mutter plant die Reise nicht als Urlaub, sondern als Möglichkeit die DDR zu verlassen. Fritzi soll für die Dauer des „Urlaubs“ auf Sophies Hund Sputnik aufpassen.
Im Laufe der Ferien erfährt Fritzi dann, dass Sophie nicht nach Leipzig zurückkehren wird.
Neben dem Verlust der besten Freundin beschäftigt sie fortan stark die Trennung von Sophie und Sputnik. Sie entwickelt den Plan, Sputnik über die Grenze zurück zur Freundin zu bringen. Unterstützt wird sie dabei von ihrem Mitschüler Bela. In Schotts Erzählung spielt der Junge keine tragende Rolle. Er ist ein Mitschüler, dessen Eltern mit ihm im Herbst 1989 ebenfalls die DDR verlassen. Zögerlich meldet er sich auf die Frage, ob jemand an der Klassenfahrt vor den Herbstferien nicht teilnähme und antwortet „ziemlich leise“: „Ich glaube, dann sind wir nicht mehr da.“ (Schott 2009, S. 33) In Fritzi entsteht der Wunsch, mit ihm unter vier Augen darüber zu sprechen, da sie sich das „Verschwinden“ so vieler Menschen, die sie kennt, nur schwer erklären kann, doch die Ausreise kommt dem Gespräch zuvor. Während die Bilder im Buch Bela auch gar nicht zeigen, ist er im Film vergleichsweise markant: er kommt als „der Neue“ in die Schule und Klasse und hebt sich allein durch seine langen Haaren von der Klassengemeinschaft ab; auch ist er der einzige Schüler, der kein Pioniertuch trägt. Bela Rothkirch ist es dann, der Fritzi mit in die Leipziger Nikolaikirche nimmt und sie bei ihrer selbstauferlegten Mission unterstützt: die Klassenfahrt möchte Fritzi als Gelegenheit nutzen, Sputnik durch „'ne Lücke im Zaun“ in den Westen zu befördern.
Ab der 47. Filmminute kommt es zu den spannendsten Szenen im Film: Fritzi läuft in der Nacht mit Sputnik von der Jugendherberge aus durch den Wald zur Grenze. Zur Überraschung Fritzis ist Bela auch dabei. Sputnik läuft allein los, jagt einen Hasen und da dieser gegen den Maschendraht springt, wird Alarm ausgelöst und innerhalb von Sekunden treffen die Soldaten ein. Ein Soldat zieht die Waffe, schießt aber nicht, als er sieht, dass es sich um ein Kind handelt. Es folgt ein strenges Verhör, bei dem Fritzi Bela schützt. Eine Nacht verbringt das Mädchen in einer Zelle. Schließlich muss die ganze Klasse die Fahrt eher beenden, die Bestrafung Fritzis wird der Lehrerin aufgetragen und der Stasi-Beamte kündigt an, sich um die Eltern zu „kümmern“ (TC: 00:52:45). Die Mitschüler*innen bezeichnen Fritzi als „Hippie-Kuh“ und „Verräterin“ (TC: 00:52:50).
Nicht nur Fritzi allein, sondern ihre ganze Familie leben von nun an mit den Konsequenzen von Fritzis Handeln und erleben bis zum 9. November dramatische Momente. Doch die Zuschauer*innen dürfen - mit dem Wissen um den Lauf der Geschichte - auf ein emotionales Happy-End hoffen, bei dem sich Sputnik, Sophie und Fritzi wiedersehen.
Die Animationen in 2D lassen die Geschichte und ihre Figuren sehr realistisch erscheinen, gleichzeitig entsprechen sie einer kindlichen Perspektive, die tatsächlich auch das - bei aller Dramatik - Wundersame oder Wunderbare der friedlichen Revolution mit einschließt. Das Freundschaftsmotiv, das den Kern der filmischen Narration bildet, ist ein typisches für die KJL zur DDR und Wende, weil es bestimmte Bedingungen der DDR für Kinder sichtbar macht. Dass das zwölfjährige Mädchen so widerständig, autonom und mutig agiert, dient und nützt dem Film ungemein, im Gespräch mit Kindern wäre diese fiktive Stilisierung natürlich zu diskutieren und zu relativieren: Hätte ein Kind von 12 Jahren 1989 tatsächlich so agieren können wie Fritzi es tut?
30 Jahre nach der friedlichen Revolution tut es gut, dass es diesen sehr empfehlenswerten Film gibt, von dem zu hoffen ist, dass er breit rezipiert wird - auch im schulischen Kontext. Er reißt durch die intensiven Konflikte Fritzis viele Themen an, die helfen, die damalige Zeit, aber auch unsere Gegenwart zu verstehen (Flucht, Kontrolle, Restriktionen, Zivilcourage, Mut, Widerstand...) und demokratische Werte nicht als selbstverständlich hinzunehmen. Es ist zu wünschen, dass er nicht nur als kurzweiliger Abenteuerfilm gesehen wird, sondern als Gesprächsanlass dient.
Für das literarische Lernen (ab Klasse 3) bietet er viele Möglichkeiten, Perspektiven und Handlungsmotive im Kontext der zeithistorischen Bedingungen zu reflektieren und nachzuvollziehen. Dies kann zum Beispiel in Form eines literarischen Sehgesprächs, angereichert mit handlungs- und produktionsorientierten Aufträgen erfolgen.

[Susanne Drogi]

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Diese Rezension wurde verfasst von sd; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 02.04.2020