Ehrenmorde von unserer Haustür

Autor*in
Beutler, Kurt
ISBN
978-3-7655-2061-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
144
Verlag
Gattung
Ort
Gießen
Jahr
2016
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
12,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Längst ist das Thema Ehrenmord kein Ereignis, das sich nur in den muslimisch geprägten Ländern abspielt, sondern die Medien liefern genügend Beispiele, dass solche Tötungsdelikte aus vielerlei Ursachen heraus in Europa Einzug gefunden haben. Die Täter sehen sich als Opfer, weil beispielsweise die Tochter sich selbst einen Mann ausgesucht hat und damit die Ehre der Familie öffentlich mit Füßen tritt. Um die Schande abzuwaschen, muss der ‚Schandfleck' aus der Familie eliminiert werden.

Beurteilungstext

Der Autor befasst sich nicht nur als Islamforscher professionell mit dieser Thematik, sondern hat auch aufgrund langjähriger Aufenthalte in Ägypten und Libanon viele Informationen ‚vor Ort' sammeln können.
Sein Buch gliedert sich in zwei Teile: Der erste befasst sich mit neun verschiedenen Arten des Ehrenmordes. Dazu gehören der ‚klassische' Ehrenmord, der von der Familie befohlene Selbstmord, der Kastenmord in Indien, der Mord an Abtrünnigen (i.e. Ex-Muslimen), der Beleidigungsmord, die Blutrache auf Familienebene, die Blutrache auf Volksebene, der Selbstmordattentäter sowie die Kriegstoten als Opfer und Täter in Endloskonflikten. Für alle liefert K. Beutler Beispiele, nennt Autoren und andere Quellen, die mit ihren Darstellungen vermutlich nur die Spitze des Eisbergs erfassen. Denn viele Ermordungen sind als Unfälle getarnt oder werden aus Scham und Angst nicht zur Anzeige gebracht. Aber nicht nur die direkt Betroffenen werden Opfer dieses "übertriebenen Ehrendenkens" (S. 79), sondern auch die vielen Tausende, die bei Selbstmordattentaten getötet oder für das restliche Leben gezeichnet werden.
Der Autor weist darauf hin, dass allein am Koran, Islam oder am Propheten geäußerte Zweifel zu Gewalttaten führen können, weil diese als Beleidigungen und Ehrverletzungen aufgefasst werden. Doch auch das europäische Festland hat über Jahrhunderte hinweg Menschen aufgrund einer erbarmungslosen Ehrenkultur verfolgt, bekriegt und ermordet, dies darf bei all der ‚modernen' Empörung nicht vergessen werden. Wer in einem solchen Denkmuster erzogen wurde und aufgewachsen ist, für den gibt es nur ein klares Schwarz-Weiß-Empfinden - diejenigen, die anders denken, stellen eine Bedrohung dar, weil sie Unsicherheit auslösen - daher müssen solche ‚Elemente' bekämpft und ausgelöscht werden.
Im zweiten Teil wird der Frage nachgegangen, ob es auch positive Seiten der Ehrenkultur gäbe. Die orientalische Gastgeberkultur, der Familiensinn und -zusammenhalt sowie der Respekt vor Älteren und überlegenen Instanzen fallen dem Außenstehenden in diesem Zusammenhang sofort als Beispiele ein. Jeder Mensch möchte Anerkennung finden und Respekt von anderen erfahren, um nur zwei Elemente dieser Ehrenkultur zu nennen. Diese Werte sind in der westlichen Welt in ihrer Realisierung nur noch selten anzutreffen. Eng verbunden mit Lob und Ehre ist das Schamgefühl, das auf Kränkungen oder Versagen beruhen kann. Wie die beiden Erstgenannten den Menschen in seinem Selbstbewusstsein stärken, so können die beiden Letzteren zu Unzufriedenheit und Hass führen. Wer in einer Kultur erzogen wurde und aufgewachsen ist, in der Ehre und alle davon abgeleiteten Facetten eine zentrale Rolle spielen, reagiert oft sehr empfindlich auf Handlungen, Aussagen oder ähnliches, die nicht in seinWerteschema passen. Es kommt zu Missverständnissen, ggf. zu Überreaktionen.
K. Beutler belegt anhand vieler Auszüge und Beispiele aus dem Koran und der islamischen Weltanschauung, dass die von ihm genannten ‚Varianten' des Ehrenmordes dort ihre Verankerung und Legitimation finden. Wie soll nun gegen ein solches Verhalten und Denken vorgegangen werden, das kulturell zutiefst verwurzelt ist und zu dem die heiligen Schriften aufrufen?
Gleichzeitig weist der Autor auf die Gefahr hin, die von dem konservativen und fundamentalistischen Denken ausgeht: Alles Neue wird als Gefahr für die Ehrenkultur empfunden, daher werden der ‚Fortschritt' und dessen Auswirkungen abgelehnt und als Anlass gesehen, dies als Zeichen der Ehrerbietung für Allah und seinen Propheten zu bekämpfen. Europa, das erst am Ende des 19. Jahrhunderts die letzten Zeichen seiner Ehrenkultur, z.B. das Duell, aus seinen gesellschaftlichen ‚Sanktionierungspraktiken' gestrichen hat, begegnet den der Politiker eingedrungenen Formen der muslimischen Ehrenkultur ohne die notwendige Reaktion. Noch immer scheint es nicht in das Bewusstsein gelangt zu sein, dass die Ehrenmorde nicht nur ‚vor unserer Haustür', sondern schon ‚im Haus selbst' stattfinden.
Der Autor sucht nach Lösungsmöglichkeiten, wie die Ehrenkultur abgeschafft werden könnte, und greift dabei erneut auf die geschichtliche Entwicklung des europäischen Kontinents zurück. Während hier - trotz aller Rückschläge - die Reformer, beginnend in der Renaissance und im Humanismus, die Basis für die fünf Säulen der westlichen Kultur, "Demokratie, Wissenschaft, Wettbewerb, Medizin und Arbeitsmoral" (S. 127), schufen, orientierte sich der Islam nach einer frühen kulturellen und wissenschaftlichen Blütezeit in den späteren Jahrhunderten allein an seinem Vorbild, dem um das Jahr 600 lebenden Propheten Mohammed. Dessen Vorrangstellung und Allmacht gebührt der Respekt der Gläubigen, zugleich ist er Richtmaß für das tägliche Handeln und Denken. Ganz anders ausgerichtet ist, so der Autor, die Botschaft des Neuen Testaments. In der Gestalt von Jesus und dessen Handeln wird die Ehrenkultur verneint, denn Jesus fördert die Schwachen, Armen, die am Rand der Gesellschaft Stehenden, lässt sich auf die damals ehrenloseste Verurteilung, die Kreuzigung, ein - und dies zwischen zwei Verbrechern. Das Christentum ist eine Religion der Liebe, der Demut, die keine gesellschaftlichen Unterschiede duldet. K. Beutler sieht in Jesus, der "im Islam als großer Prophet" (S. 141) gilt, eine Chance gegen das "falsch verstanden[e] Ehrendenken [in der islamischen Kultur]" (S. 141), vorausgesetzt, dass sich die Menschen auf dessen "tiefere Bedeutung […] und [dessen] gewaltfreie Lehre besinnen." (S.141)
Der Autor führt mit klarer und sachlicher Sprache den Leser in die Thematik ein, zeigt anhand zahlreicher Beispiele die Dringlichkeit auf, sich dieser zu stellen, polarisiert an manchen Stellen und rüttelt die Menschen der westlichen Welt aus ihrem Dornröschenschlaf wach, in dem sie noch immer nicht die Gefahr erkannt haben, die inzwischen nicht mehr über ihnen schwebt, sondern sie auf Augenhöhe umgibt. Dabei geht es ihm nicht darum, Vorurteile zu festigen, sondern zu klären, dass die Täter aus der Enge ihres kulturellen Denkens heraus ihr Handeln als Notwendigkeit sehen. Das Buch bietet viele Ansatzpunkte für Diskussionen und zeigt gleichzeitig Parallelen aus der westlichen Geschichte auf, die es bei diesen zu berücksichtigen gilt. Daher finde ich das Buch sehr empfehlenswert.

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Diese Rezension wurde verfasst von magic.
Veröffentlicht am 01.07.2016