Die Mitte der Welt

Autor*in
Steinhöfel, Andreas
ISBN
978-3-551-31597-7
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
480
Verlag
Carlsen
Gattung
Taschenbuch
Ort
Hamburg
Jahr
2016
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
9,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die Geschichte einer jugendlichen homosexuellen Liebe.

Beurteilungstext

„Die Mitte der Welt“, 1998 bei Carlsen erschienen, ist inzwischen ein Klassiker der Jugendliteratur. Im November 2016 ist die gleichnamige Verfilmung in die deutschen Kinos gekommen, und der Verlag hat es sich nicht nehmen lassen, den Roman zu diesem Anlass neu aufzulegen und mit der Etikettierung „Das Buch zum Film“ auf den Markt zu werfen. Das Cover zeigt im unteren Drittel eine Gruppe Erwachsener (vier Frauen und ein Mann) in Kuschelhaltung. Die Frauen lächeln ein blitzsauberes Fernsehlächeln, der Mann sorgt für bärtige Stabilität. Die Botschaft ist klar: Alles wird gut. Im oberen Drittel, über dem mittig platzierten Romantitel, sehen wir das schöne Gesicht eines nachdenklichen Jugendlichen, eingerahmt von zwei strahlenden Gesichtern, die wir allerdings auf Anhieb nicht erkennen, weil sie (Filmszene)kopfüber im Blatt hängen. Auch diese Botschaft ist klar: Nicht alles wird gut.
Phil ist schwul. Er weiß das und hat auch kein Problem damit, will aber nicht, dass die sogenannten „Jenseitigen“, also die Bewohner der Kleinstadt und die Masse seiner sogenannten Schulkameraden davon erfahren. Verständlich. Seine Mutter weiß, dass er schwul ist. Die Freundinnen seiner Mutter, ein lesbisches Paar, wissen es. Seine Schwester weiß es auch. Und seine Freundin Kate sowieso. Also wissen es alle, auf die es ankommt. Nur der Vater weiß es nicht. Warum? Er ist nicht da, ist in Amerika geblieben und hat die siebzehnjährige werdende Mutter treulos verlassen, was diese dazu veranlasst hat, kurz vor der Entbindung zu ihrer Schwester Stella nach Deutschland zu reisen (klassisch auf einem Schiff), wo sie wenige Meter vor dem Ziel in einer hochdramatischen Szene klatschnass und durchgefroren (auf Blitz und Donner wurde verzichtet) ein Zwillingspaar gebiert. „So wurden Dianne und ich geboren: Nassen, kleinen Tieren gleich fielen wir auf verkrusteten Schnee …“ (Prolog, S. 14). Also, die Sache fängt mystisch an und geht auch entsprechend weiter. Phil wird kurz vor seinem neunten Geburtstag von der rothaarigen Tereza (sie übernimmt den Part der Seherin) mit der Wahrheit konfrontiert. Tereza zur Mutter: „Glaub mir, dein Sohn ist eine Tunte!“ (S. 346). Die Mutter ist damit zufrieden und prophezeit dem Zwölfjährigen, er werde sich irgendwann in einen Jungen verlieben. Sie ist es auch, die mit Hilfe von Gable, einem entfernten Verwandten, der ruhelos die sieben Weltmeere durchstreift, den ersten erotischen Kontakt inszeniert, natürlich in Griechenland in einer einsamen Bucht, wo , einem Götterboten gleich, ein schöner Jüngling auftaucht und den vierzehnjährigen Phil inmitten einer Traumlandschaft verführt. „Dann glitt er an mir herab, seine Hände rutschten an der Rückseite meiner Beine nach unten und kamen in meinen Kniekehlen zur Ruhe, meine Hände fielen auf seine Schultern, seine Haut war so kühl, als wäre sie nie von der Sonne berührt worden. Ich griff in seine Haare. Ich löste mich auf, ich wurde zu Feuer, Wasser, Sand, Asche.“ (S. 190) Fellation für die, die es erkennen, mythologisch aufgeladen, kitschig verbrämt. Aber sei´s drum, es ist ein Jugendbuch. Phil verliebt sich siebzehnjährig in den achtzehnjährigen Nicolas, findet erotische Erfüllung, aber keine echte Liebe, wird von Kate und Nicolas in einer filmreifen, nicht minder kitschigen Szene betrogen und verlässt am Ende seine Heimat, das Märchenschloss Visible, um sich auf die Suche nach seinem Vater zu begeben, von dem er inzwischen Gutes erfahren hat. „Er war so sanft“, hörte er die Mutter sagen. „Wenn er eine Blume berührte, begann sie kurz darauf zu blühen, das schwöre ich dir, Phil. Ich habe es gesehen. Einmal besuchten wir einen Zirkus. Wir gingen an den Käfigen mit den Raubkatzen vorbei, und die Tiere, die eben noch gebrüllt hatten und auf und ab gelaufen waren, legten sich ganz ruhig hin, kaum dass wir in ihre Nähe kamen. Dein Vater griff durch die Gitterstäbe und streichelte den Kopf eines Löwen. Er hatte keine Angst.“ (S. 442/43) Na bitte, dann ist ja alles gut: Der Vater ist ein Gott.
Am Ende wird die treue oder neue Leserschaft – und das ist schön – vom Autor in die Entstehungsgeschichte des Romans eingeführt, und der Filmregisseur Jakob M. Erwa weiß Interessantes zum Verhältnis Buch/Film zu erzählen. Das rundet die Geschichte ab und versöhnt auch den Leser und die Leserin, sofern sie sich am Kitsch gerieben haben. Die Frage, was aus Phil geworden wäre, hätte er sich irgendwann zum Entsetzen seiner Mutter und zum Entsetzen ihrer Freundinnen als Hetero geoutet, bleibt offen. Die verkehrte Welt ist normal, die normale verkehrt oder umgekehrt - es kommt nicht mehr drauf an.

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Diese Rezension wurde verfasst von bf.
Veröffentlicht am 18.09.2023