Die Meisterin der magischen Karten

Autor*in
Miller, Jessica
ISBN
978-3-522-18581-3
Übersetzer*in
Obrecht, Bettina
Ori. Sprache
Amerikanisch
Illustrator*in
Barnard, Simon,
Seitenanzahl
315
Verlag
Thienemann
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/RomanFantastik
Ort
Stuttgart/Wien
Jahr
2022
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Freizeitlektüre
Preis
15,00 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Olgas Familie lebt im Land der mächtigen Zarin, das in Zwist mit dem Reich der Vögel lebt. Es ist offenbar weit nach unserer Jetztzeit. Erfindungen ermöglichen ein komfortables Leben. An einer Himmels-Metro wird gebaut. An der Schule, in städtischen Parks und beim jährlichen Ball der Mädchen werden Traditionen gepflegt. Seitdem das Ei des Feuervogels verschwand, gibt es keine Vögel mehr. Die Yaga-Hexen wurden verbannt. Um das Ei herrscht Krieg. Es soll in der unkartierten Ebene versteckt sein.

Beurteilungstext

Olga lebt in einigem Komfort mit ihrer Schwester, ihrem Vater und seiner zweiten Frau in der Hauptstadt der fiktiven Republik Zarezvo. Der Vater plant eine Himmelsmetro für die Herrscherin des Landes. Als der planmäßige Bau der Himmelsmetro nicht klappt, wird der Vater auf unbestimmte Zeit ins Kaiserliche Zentrum für Vogelüberwachung versetzt. Er ist als Architekt in Ungnade gefallen. Die Mutter, eine Schauspielerin, muss auf weitere Filmrollen verzichten. Olgas Schwester, eine begnadete Tänzerin, fürchtet um ihre Karriere, weil sie nun nicht zum Vortanzen kann. Olga, das anscheinend weniger talentierte Kind, kann nicht auf den großen Ball der Stadt, wo sie in die Gesellschaft eingeführt werden soll. Sie ist immerhin froh, den täglichen Vorbereitungen der Mutter zu entkommen. Auf ihre Schwester blickt sie eifersüchtig.
Olga fühlt sich nicht anerkannt, weil sie Erwartungen nicht erfüllen kann. Sie interessiert sich nur für Landkarten und Vermessungen. In der Schule ist die Rede von entführten Mädchen, die in einer fernen Mädchenschule aus diesem Grund festgehalten werden. Sie hat Angst, auch entführt zu werden, weil auch sie anders ist.

Die Überwachungs-Station ist weit weg von allen Zentren in einem offenbar ewig eisigen Gebiet, das nah an der Grenze zum Reich der Vögel liegt. Zarenreich und das Reich der Vögel stehen miteinander im Krieg. Grund ist ein entwendetes Ei des Feuervogels.
Die Reise ist beschwerlich. Als die Familie den Zug verlassen muss und auf Tieren weiterreist, wird sie von Yagas, in ihren auf Hühnerbeinen laufenden Hütten bedrängt. Sie fürchten die Hexen, weil ihnen eingeredet wurde, dass sie den Menschen feindlich begegnen. Es wird behauptet, dass sie das Feuervogelei gestohlen haben. Seitdem sind Yagas verbannt und beide Herrscherinnen hinter ihnen her.
In der Station findet die Familie schnell Kontakte, doch alles ist karg, kalt und das Essen besteht hauptsächlich aus eingelegten Pilzen.

Olga muss später in die berüchtigte Mädchenschule, die sich aber als gar nicht so gruselig darstellt. Die Mädchen sind nicht wirklich entführt worden, sondern alle sind Yagas, die miteinander in gutem Kontakt stehen. Jede verfügt durch ein individuelles Medium über besondere Zauberkräfte und soll sich darin üben. Einmal ist das Medium das Metall Silber, einmal sind es Bienen und bei Olga sind es Landkarten, für die sie sich schon immer interessiert hat. Weil sie von Olga bereits wussten, waren auch die Hütten der Yagas auf der Spur der Familie.
Das Schulleben ist streng strukturiert mit festen Ritualen. Wissenschaftliche Archive sollen das Lernen unterstützen
Olga erfährt durch die Berührung der Landkarten, die Formationen des Geländes, Gewässer und Landschaften zu erfühlen, zu schmecken, zu riechen und z.B. einen Fluss aus ihnen herausfließen zu lassen. Ohne Berührung verschwindet er wieder zurück in die Karte. Sie lernt, in Karten und Gebiete einzutauchen und sie zu betreten.

Der Vater beabsichtigt unterdessen, in ein bisher unkartiertes Gebiet mit Militärballons und Zeppelinen vorzudringen und das Ei zu finden. Er erhofft sich Rehabilitierung und Rückkehr der Familie in ihr behütetes Zuhause.
Im Rahmen eines Gegen-Angriffs der Vögel wird Olgas Schwester entführt. Olga weiß inzwischen, dass sie selbst auch eine Yaga ist. Sie nutzt Kontakte zu alten Frauen im Dorf und entschließt sich sofort, ihre Schwester zu retten. Sie nimmt nur ein paar Pilze mit und einen Erinnerungsbeutel einer Ratgeberin, mit dem sie Erinnerungen – auch anderer - nutzen kann. Der Inhalt soll ihr in schwierigen Situationen irgendwie hilfreich sein. Sie hat keinen Plan, wo sie suchen soll und wie sie überleben kann.

Das weitere Geschehen im riesigen verschneiten Land verläuft dann doch sehr verwunderlich. Olga schafft es, mit Hilfe einer laufenden Yaga-Hütte, weite Strecken zu überwinden. Die Wanderung ohne wirkliche Navigation, ohne Nahrung oder Getränke, mit nur dem wärmenden Pelzkragen am Mantel, wird sehr abenteuerlich und – selbst für Fiktionales – sehr unwahrscheinlich. Sie kann den Beutel der Erinnerungen nutzen und ergänzt ihn mit einer geschenkten Feder des Feuervogels.
Sie wird schließlich selbst gefasst. Von der Herrscherin der Vögel bekommt sie die Aufgabe, das Ei des Feuervogels in der unkartierten Ebene zu finden. Die Belohnung soll die Freilassung der Schwester sein. Diese neue Aufgabe schafft sie trotz der extremen eisigen Witterung und wiederum ohne vollständige Karte, ohne vernünftiges Essen und Plan bis zur Behausung des legendären, von ihr verehrten Kartenforschers. Er war seit der Forschungsreise zum Kartieren der Ebene schon lange Zeit verschollen. Von ihm wird in Olgas Buch erzählt, das sich mit historischer Kartenkunde beschäftigt.
Nach den zwei Tagesreisen mit Schlittenhunden (die auch tagelang keine Nahrung bekommen können) stapft sie im tiefen Schnee das schier unendliche zugeschneite Gelände ab und sucht das Ei. Das Ei findet sie nicht, doch den Kartierer als lebendes Gerippe, nur von Spinnweben gehalten im Sessel sitzend. Sie können sich verständigen. Sie erhält seine noch nicht ganz fertiggestellte Karte, in die sie zusätzlich eigene Landmarken einfügt.
Triebfeder all ihren Tuns ist die Liebe zur Schwester. Es gibt weder Plan noch Ausrüstung, nur das Wissen, dass auch sie über Yaga-Kräfte verfügt, auch wenn sie sie bisher nie geschult oder erprobt hat.

Im letzten Teil verläuft die Handlung schnell und führt in kurz erzählten Episoden über weitere Schwierigkeiten schließlich zum guten Ende. Die Vögel erwarten die Aushändigung des Eis, das sie (noch) nicht hat. In ihrer Not sucht sie das Ei nun nicht am wirklichen Ort, sondern über das magische Eindringen in die neue Karte. Sie greift das völlig eingefrorene, durch Spinnweben umhüllte und geschützte Ei aus der Karte heraus.
Sie brütet das Ei mit Hilfe der Feder aus. Das kann nur eine Yaga!
Sie flieht schließlich mit dem hausgroßen Tier und der befreiten Schwester zurück in die Station zu den Eltern.
Sie erhält zu ersten Mal Anerkennung und Dank der Schwester, die ihre Stärke endlich auch sieht. Beide geben nur Teile ihrer Erlebnisse preis, die der Zarin übermittelt werden. Der Vater wird rehabilitiert und darf mit seiner Familie in die Hauptstadt zurückkehren und weiter als ihr Architekt arbeiten.

Die Erfindung dieser fiktionalen Welt ist der Autorin nur teilweise gelungen. Ihre Beschreibungen der Natur und Landschaft sind differenziert und vorstellbar. Auch den einzelnen Charakteren widmet sie viel Aufmerksamkeit und gibt ihnen die Qualitäten, die eine noch relativ junge Olga erfassen kann. Denn alle Personen sind aus ihrer kindlichen Sicht beschrieben, die sich über den Text erst entwickeln soll.
Die Gedanken über sich selbst und ihre Entwicklung innerhalb der Erzählung sind meist vorstellbar, bleiben aber auf der Handlungsebene sehr naiv. Sie erkennt zum Schluss, dass auch sie selbst Fähigkeiten besitzt und sich nicht notwendig vergleichen muss.
Schildert die Autorin den Schritt zum Erwachsenwerden? Dazu benötigt sie einen erheblichen dramaturgischen Aufwand. Schafft sie es nur durch Magie, erwachsen zu werden? Nur durch das, was keiner Anderen zur Verfügung steht? Wo bliebe sie ohne diese Magie? Wofür stehen hier Magie und Hexenkunst? Allerdings: Sind diese Überlegungen zu fiktionalen Texten überhaupt zulässig?

Die Gedanken über die Liebe zur Schwester und den großen Neid auf sie machen ihr späteres Verhalten wenig glaubhaft. Eine Liebe erst dann zu erkennen, wenn die Person plötzlich aus den Bezügen gerissen wurde und in Gefahr ist, ist vorstellbar. Dass sie darüber alle Vorsicht vergisst, erscheint eher als trotziges Verhalten. So zu handeln und loszulaufen, wie im Text geschildert, ist unsinnig. Wenn man die auf den Innendeckeln des Buches gezeichneten Landschaften und das Ausmaß und die Größe der gezeichneten Reiche einbezieht, kann Planlosigkeit selbst mit Magie nur Unheil bringen. Die Unterstützung z.B. durch eine auf Hühnerbeinen laufende unbewohnte Hütte war unvorhersehbar und ist mehr als märchenhaft. Vielleicht vermischen sich hier die Genres?
Es sind letztlich viele Zufälle, die die Geschichte zu Ende führen: Die im Verlauf der Suche erst zufällig als Geschenk erhaltene unansehliche Feder wird zum Schluss die entscheidende Lösung und Rettung herbeiführen. Nur mit ihr gelingt einer Yaga das Ausbrüten des Eis. Fast verbrennt es dabei im Feuer, bevor der Vogel aus der Asche aufsteigen kann wie Phönix.

Das Buch endet mit der Rückkehr in das alte Leben. Der Vater arbeitet auf seiner alten Position. Die Erinnerungen können die Schwestern nur heimlich untereinander teilen. Die offizielle Version der Ereignisse soll jedoch mit der Stiefmutter als einer der Protagonistinnen verfilmt werden. Ein anderer Bezug zum verlassenen Gebiet und seiner Bewohner findet sich nicht mehr.

Weitere Fragen stellen sich daher:
Ist der neue Feuervogel nun frei im Vogelreich oder bleibt er im teilweise kartierten Land? Mit wem lebt er dort dann? Zu welchem Reich gehört dieses Gebiet nun? Wie sieht die „unabhängige historische“ Geschichtsschreibung der Vögel aus? Werden neue Krieger in die Grenzregion geschickt? Kann nun Ptarschka ihre Macht im Vogelreich durch den Vogel erweitern oder bricht ein neuer Krieg aus? Welche Ziele verfolgen die Yagas in der Mädchenschule und ihre Meisterinnen eigentlich? Die „unabhängigen historischen“ Einträge aus dem 19. Jahrhundert müssten doch zumindest ergänzt werden. Warum wurde auf sie sonst - auch mit ihrer optischen Hervorhebung auf mehreren eingefügten Seiten - solch ein Gewicht gelegt?

Es ist unbefriedigend, dass zum Schluss der Verbleib des hilfreichen Feuervogels ungeklärt ist, hatte er sich doch gegen die Herrscherin des Vogelreichs positioniert und die Mädchen gerettet.
Das Zarenreich hat offenbar viel an Luxus aber wenig an demokratischen Möglichkeiten zu bieten. Es kümmert sich z. B. offiziell niemand um das Verschwinden der Mädchen? Das ist ein weiterer Strang, der nicht auserzählt oder hinterfragt wird nach derLäuterung Olgas.
Ist vielleicht nur der Wunsch nach einem privilegierten Leben mit ein wenig Anerkennung der eigentliche Motor der Geschichte?

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Diese Rezension wurde verfasst von stoni; Landesstelle: Nordrhein-Westfalen.
Veröffentlicht am 11.01.2023