Die Gespenster von Demmin

Autor*in
Kessler, Verena
ISBN
978-3-423-62757-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
240
Verlag
dtv
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2022
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
9,95 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Teaser

Kleinstadttristesse in Demmin. Hier wohnt die 15-jährige Larry, die auf dem Friedhof jobbt und sich mit heiklen Trainingsübungen darauf vorbereitet, den Ort zu verlassen und Kriegsreporterin zu werden. Die gebrechliche Nachbarin aus dem Nebenhaus, die auf keinen Fall ins Altenheim umziehen will, wird indes zunehmend von schrecklichen Bildern der Vergangenheit heimgesucht: dem Massenselbstmord der Ortsbewohner am Ende des Zweiten Weltkriegs, bei dem auch sie beinahe zu den Opfern gehört hätte.

Beurteilungstext

Protagonistin in Verena Keßlers Debütroman „Die Gespenster von Demmin“ ist die 15-jährige Larissa, kurz Larry. Ihr unbedingter, wenngleich ziemlich ungewöhnlicher Berufswunsch ist Kriegsreporterin. Um dafür gewappnet zu sein, hat sie sich harte, fast schon selbstzerstörerisch anmutende Trainingsmethoden ausgedacht; etwa: so lange wie nur irgend möglich kopfüber hängen zu bleiben, Kälte auszuhalten, die Luft anzuhalten oder in einem frisch ausgehobenen Grab Probe zu liegen. Dass ihre Eltern sich bereits vor Jahren getrennt haben, belastet die junge Frau, zumal die Trennung durch den tragischen Unfalltod ihres dreijährigen Bruders kurz vor Larrys Geburt verursacht wurde. Sich mit dem neuen Freund der Mutter einfach zu arrangieren, dazu ist sie ebenfalls nicht bereit. Sie haut ab, will mit ihrem fernfahrenden Vater nur weg, irgendwo hin, um ihr eigenes Ding zu machen.
Gleich nebenan wohnt die alte Frau Dohlberg. Diese zweite Hauptfigur des Romans ist schon recht gebrechlich, kann nicht mehr allein zurechtkommen und soll von ihrem Großneffen ins Altenheim gebracht werden. Zunehmend wird sie von alptraumhaften Bildern der Vergangenheit geplagt, als hunderte Bewohner der Kleinstadt am Ende des Zweiten Weltkriegs Massenselbstmord begingen. Die Auflösung ihres Haushalts veranlasst die alte Dame schließlich zu einer folgenschweren Entscheidung.
Der Roman kann zunächst einmal als typische Coming-of-Age-Literatur bezeichnet werden. Die junge Larry, die als Ich-Erzählerin auftritt, ist – wie „es sich gehört“ – anderen gegenüber freundlich, hilfsbereit und prinzipiell zielstrebig im Hinblick auf ihre persönliche Zukunft als Kriegsreporterin. Doch sie wird auch umgetrieben von Selbstzweifeln, die sie durch ihre selbst auferlegten, teils an die Grenze des Erträglichen gehenden Selbstfolterungen in den Griff bekommen möchte. Ihre getrennt lebenden Eltern spielen eine wichtige, aber nicht konfliktfreie Rolle in ihrem Leben; durch den frühen Unfalltod des Bruders, dessen genaue Umstände bislang weitgehend verschwiegen werden, ist der familiäre Zusammenhalt stark belastet. Doch dieses fatale Ereignis scheint in Larry auch eine Art Faszination ausgelöst zu haben für alles, was mit dem Tod zusammenhängt. Ihr Versuch, der von ihr trotz einer ersten Liebelei als bedrückend empfundenen Enge der Kleinstadt zu entfliehen, bleibt erfolglos, lässt sie jedoch danach manches unter einem positiveren Aspekt sehen.
Nahezu ausnahmslos rückblickend ist die auktorial geschilderte Sichtweise der zweiten Protagonistin, der alten Frau Dohlberg. Sie kommt mit dem drohenden Verlust ihrer gewohnten Umgebung nicht mehr klar, obgleich - besser: gerade weil - diese untrennbar mit ihren traumatischen Kindheitserlebnissen verbunden ist. Diese zweite Romanebene wird bereits im Buchtitel angedeutet: Im Hintergrund des aktuellen Geschehens geht es immer auch um die Nachwirkungen des mutmaßlich größten Massensuizids der deutschen Geschichte, der am Ende des Zweiten Weltkriegs in Demmin stattfand. Keßler geht es dabei wohl weniger um eine Aufarbeitung dieser Tragödie; sie weist vielmehr darauf hin, dass ein Verdrängen nicht durch kollektives Schweigen erreicht werden kann, sondern dass derartige Traumata – „Gespenster“ der Vergangenheit - auch auf die nachfolgenden Generationen ihre deutlichen Nachwirkungen haben, auch wenn die Zusammenhänge nicht unbedingt offensichtlich sind. Die Autorin tut dies in einer sparsamen, bisweilen gar spröden Sprache, die gerade dadurch atmosphärisch bezwingend dicht und spannungsintensiv wirkt. Durch die oft nur in knappen Andeutungen geschilderten Ereignisse bleibt es den Leserinnen und Lesern selbst überlassen, die jeweiligen Bildvorstellungen zu entwickeln.
Der packende Roman ist für Jugendliche ab etwa 14 Jahren, aber ebenso für Erwachsene geeignet.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPGK; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 01.04.2022

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