Die Denunziantin

Autor*in
Reimann, Brigitte
ISBN
978-3-8498-1770-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Lay, Jens
Seitenanzahl
377
Verlag
Aisthesis
Gattung
Buch (gebunden)Erzählung/Roman
Ort
Bielefeld
Jahr
2022
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiFreizeitlektüreKlassenlektüre
Preis
24,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Mit 19 Jahren schreibt Brigitte Reimann 1952 die erste Manuskriptfassung zu ihrem Roman "Die Denunziantin". Noch ganz unter dem Eindruck ihrer Schulzeit an der Oberschule in Burg und einem kurzen Lehrgang für Neulehrer am Institut für Lehrerbildung beginnt sie den Jugendroman zu schreiben. Im Mittelpunkt des Romans steht eine Abiturientin, die sich vorbehaltlos zum Marxismus bekennt und ein aktives Mitglied der FDJ an ihrer Schule ist.

Beurteilungstext

Bereits im Oktober 1951 wurde Brigitte Reimann zu einer Arbeitstagung junger Autoren des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale) eingeladen. Derart ermuntert nahm sie an einem Wettbewerb um die schönste Liebesgeschichte teil. Brigitte Reimann reichte eine Kurzerzählung mit dem Titel "Claudia Serva" ein.
Die junge Autorin schickte die Erzählung an die damals weltbekannte Schriftstellerin Anna Seghers und erbat deren Rat zu ihrem Wunsch, Schriftstellerin zu werden.
Obwohl sie später vom Desinteresse der Schriftstellerin an ihrem Manuskript "Die Denunziantin" enttäuscht war, hat sie die erste Reaktion von Anna Seghers auf ihren Brief von 1952 nachhaltig beeindruckt. Anna Seghers erteilte ihr damals folgenden Rat:
"Schreiben Sie nur kein Sonntagsdeutsch, schreiben Sie nur , was Sie wirklich denken und erleben. Schreiben Sie nur keinen falschen Pathos und keine gedichteten Artikel." (S.367).
Diesem Rat folgend, machte sich die 19-jährige Autorin an das Schreiben der ersten Kapitel.
Die Handlung des Romans spielt zwischen dem 19. Februar 1951, der Reise von Eva Hennig und ihrem Freund Klaus nach Berlin, und dem Abitur der Protagonistin im Juli 1951.
Zu Beginn des Romans ist Eva mit ihrem Leben an der Schule in einer Kleinstadt in der DDR zufrieden. Sie ist in ihren Freund Klaus verliebt, ist als überzeugte Marxistin und am sozialistischen Aufbau der neuen Gesellschaft aktiv beteiligte Leiterin einer Laienspielgruppe bei ihren Mitschülern und den Lehrern beliebt und sie ist als Klassensprecherin akzeptiert.
Mit ihrer Laienspielgruppe probt Eva das antifaschistische Theaterstück "Die Eysenhardts". Es kommt zum Eklat mit dem allseits beliebten Deutsch- und Englischlehrer Sehning, als dieser die antifaschistischen Widerstandskämpfer diskriminiert. Er ist der Meinung, dass der Kampf einiger Fanatiker sinnloses Blutvergießen war und die Taten der von Eva verehrten Menschen an Wahnsinn grenzten (S.98).
Mit dieser Aussage hat der Studienrat Evas Vater beleidigt, der als aktiver Gegner des NS-Regimes hingerichtet wurde. Wutentbrannt verlässt sie mit dem Satz: "Sie sind ja nicht wert, Lehrer zu sein." den Unterricht und begibt sich zum Direktor, um die Entlassung Sehnings zu verlangen. Die meisten Schüler, zu ihnen gehört auch Klaus, sind mit Evas Verhalten nicht einverstanden.
"Das Mädchen Eva Hennig wußte ja nicht, daß es erst am Anfang stand, ganz am Anfang einer unerfreulichen Zeit"(S.111). Fortan wird sie an der Schule als Denunziantin beschimpft. Erst zu Ende des Romans wendet sich das Blatt wieder, aber das sollen die Leserinnen und Leser selbst bei ihrer Lektüre erkunden.
Es bleibt die Frage, warum Jugendliche an einem Gymnasium 2023 diesen Jugendroman von Brigitte Reimann aus dem Jahr 1953 lesen sollten?
Der Roman ist heute gerade für junge Leserinnen und Leser ein zeithistorisches Dokument. Die junge Autorin beginnt mit dem Schreiben nach ihrem Abitur im Alter von 19 Jahren. Dem Rat Anna Seghers folgend, schreibt sie über den damaligen Schulalltag und die widersprüchlichen Auffassungen ihrer Mitschüler und der Lehrer zu den Verhältnissen in der gerade erst gegründeten DDR, zum Umgang der verschiedenen Generationen mit der NS-Vergangenheit und schließlich mit der Auswirkung der Teilung Deutschlands auf Schüler und Lehrer. In ganz unterschiedlichen Situationen bekennt sie sich eindeutig zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in der DDR.
Neben dem zeithistorischen Hintergrund der Handlung dürften für heutige Schülerinnen und Schüler von 11. und 12. Klassen die Auseinandersetzungen der Jugendlichen untereinander und die Gestaltung ihrer Freizeit in den ersten Jahren der DDR sein. Besonders die Liebesbeziehung zwischen Eva und Klaus, die bei ihr zu einem schmerzhaft widersprüchlichen Zwiespalt führt und die schließlich an den politisch unterschiedlich agierenden Protagonisten scheitert, können ein Diskussionsangebot sein. Aber auch Evas Verhältnis zu den Lehrern, insbesondere zu Direktor Dr. Lorenz, Studienrat Sehning und zu ihrer Mutter dürfte Debatten auslösen. Schließlich ist das Figurenensemble rund um Eva sehr differenziert gestaltet. Das betrifft insbesondere die Auseinandersetzungen mit ihren Klassenkameraden, die häufig Evas Argumentationen nicht folgen können. Im einzelnen gehören u.a. die Mitglieder ihrer Laienspielgruppe dazu. Anders gestaltet sich ihr Verhältnis zu ihrem späteren Freund Georg, mit dem sie sich weltanschaulich verbunden fühlt.
Spannend dürfte auch die Frage sein, warum Brigitte Reimann trotz vieler Bemühungen und Überarbeitungen des Manuskripts keinen Verlag in der DDR findet, der den Roman veröffentlicht. Zu den politisch motivierten Änderungen durch die Autorin in den vier Manuskriptfassungen finden sich aufschlussreiche Quellen im Anhang des Buches (S.273 ff.)
Besonderer Dank gilt Kristina Stella für diesen Anhang zur Editionsgeschichte. Es ist unbedingt zu empfehlen, dass Literaturzirkel bzw. Leistungskurse an den Gymnasien dieses besondere Angebot für ihre Rezeption des Romans nutzen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Anmerkungen zu den Illustrationen verwiesen. "Die Graphiken sind aus assoziativen Gedanken zu Brigitte Reimanns Roman 'Die Denunziantin' entstanden"(S.363).
"Die Denunziantin" ist der interessierten Leserschaft an zeithistorischen Jugendromanen unbedingt sehr zu empfehlen.

Anmerkung

Das bis dato nicht veröffentlichte Manuskript des ersten Romans von Brigitte Reimann von 1953 wurde 2022 mit einem Anhang zur Editionsgeschichte von Kristina Stella im Aisthesis Verlag herausgegeben.

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Diese Rezension wurde verfasst von schl; Landesstelle: Sachsen.
Veröffentlicht am 13.06.2023