Die Anarchie der Buchstaben

Autor*in
Goldi, Kate de
ISBN
978-3-551-56003-2
Übersetzer*in
Herzke, Ingo
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
O’Brien, Gregory
Seitenanzahl
150
Verlag
Carlsen
Gattung
Ort
Hamburg
Jahr
2014
Lesealter
10-11 Jahre12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
13,90 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

""I wie idiotisch"" (50) ist in diesem Buch nichts. Und schon gar nicht ""dümmerer"" (8). ""G wie ganz schön komisch"" (105) schon eher. Aber B wie ""bloß Blödsinn in der Birne"" (61) auf keinen Fall. ""Lachig"" (51) ist vieles, aber nicht lächerlich. Der Roman ""Die Anarchie der Buchstaben"" erzählt die Geschichte von Perry und ihrer Oma Honora Lee und legt dabei, ganz zart und nebenbei, den Segen einer naiven Anarchie offen.

Beurteilungstext

Dass die neuseeländische Schriftstellerin und Corine-Preisträgerin Kate de Goldi einen ganz eigenen literarischen Ton besitzt, der einen Zauber ausstrahlt, das hat schon Anette Pehnt über den Roman ""abends um 10"" festgestellt. Das Buch sei ""zauberhaft. Sein Zauber wirkt ganz allmählich"" und schäle sich aus den dargestellten Alltäglichkeiten heraus. Mit dem Roman ""Die Anarchie der Buchstaben"" liegt nun ein weiterer Roman vor, dessen poetisch-zauberhafte Strahlkraft intensiv zu spüren, aber schwer zu fassen ist. Aber gerade darin besteht der Wert dieses Werkes. Bevor diese Wertzuschreibung Gegenstand der Auseinandersetzung ist, soll aber der Inhalt in groben Zügen skizziert werden.

Perry ist das einzige Kind von beruflich erfolgreichen und eingespannten Eltern, die nur das Beste für ihre Tochter wollen. Aber Perry ist nicht wie andere Kinder und auch nicht so, wie ihre Eltern es gerne hätten. Perry ist unkonventionell und exzentrisch, kreativ und mit ästhetischer Wahrnehmungs- und Produktionskraft begabt, die sich aber nur in der Freiheit entfalten kann. Davon hat sie aber nicht viel, denn die Wochentage sind verplant, schließlich soll Perry gefördert und gefordert werden (9, 10). Montags Klavierunterricht , dienstags Förderunterricht, mittwochs Klarinettengruppe und donnerstags ""Musik und Bewegung"" im Gemeindezentrum. Freitags dann der positive Höhepunkt: Sie wird von Nina, ihrer ehemaligen Kinderfrau, und deren Sohn betreut. Ihre Eltern sieht sie nur selten und wenn, dann laufen die Gespräche nur schleppend, weil die Eltern nicht wirklich bei der Sache sind oder Perry nicht verstehen können.
Eines Tages aber wird, was sich als glückliche Fügung für Perry herausstellt, der Donnerstagnachmittag frei, weil die Kursleiterin sich verletzt hat. Um Perry auch an diesem Nachmittag wieder unterzubringen, darf sie von nun an ihre Oma besuchen, die im Santa Lucia mit anderen dementen Personen zusammenlebt. Ihre Tochter zur Oma zu lassen, kostet die Eltern Überwindungskraft, denn wie soll Honora Lee ihre Enkelin fördern?
Perry beginnt die Nachmittage in Santa Lucia zur Erstellung eines ABC-Buches zu nutzen, weil Honora Lee das ""Alphabet richtig … gern"" (47) hat. In der gemeinsamen Arbeit entwickelt sich eine enge Beziehung zwischen Enkelin und Großmutter. Eine Beziehung, die auch ein ""unordentlich Ich sehe was, was du nicht siehst"" (43) -Spielen oder ein unordentliches ADV-Buch zulässt. Eine Gegenwelt zu Perrys Zuhause stellt Santa Lucia dar, indem Anerkennung, Hingabe und Fürsorge das dortige Zusammenleben kennzeichnen.

Schon an diesem Versuch einer Inhaltsangabe wird eine Schwierigkeit erkennbar, die bei der Wertung zum Problem wird. Beide nämlich - Inhaltsangabe und literarische Wertung - nehmen Wertzuschreibungen und Kommentierungen vor. Diese Sprechhandlungen sucht man aber im Roman vergeblich. Einer Geschichte mit einer Wertung und Kommentierung zu begegnen, die sich bewusst einer Wertung und Kommentierung enthält, kann nur gelingen, wenn gerade die Enthaltung als das Schöne herausgestellt wird, das positive Wirkpotential beinhaltet.

Als herausragende Besonderheit des Romans soll daher hervorgehoben werden, dass ein heterodiegetischer Erzähler konsequent aus der Wahrnehmungsperspektive von Perry erzählt. Und wie angedeutet, ist Perry ein besonderes Kind, das der Welt und den Menschen in einer kindlichen Naivität begegnet, hinter der ‚ein Herz voll Unschuld und Wahrheit' steckt. Wertungen und Kommentierungen sind ihr fremd. Perry nimmt jedes Anders-Sein als eine Seinsform an, die es einfach gibt. Ihre Großmutter und die anderen dementen Personen werden dann ebenso wenig als krank, weil nicht dem als gesund festgeschriebenen Zustand entsprechend, klassifiziert, wie auch der Umgang der Eltern mit Perry selbst nicht wertend kommentiert wird. Sie lebt in der Welt, die sie umgibt, ohne den Drang der Einschätzung zu verspüren.
Erwartet man eine solche perspektivische Verzerrung bei homodiegetischen Erzählern, so ist sie bei heterodiegetischen Erzählern ungewohnt und, weil man nicht mit ihr rechnet, unauffällig. Als Leser nimmt man durch die Augen von Perry wahr, aber aufgrund der fehlenden Markierung dieser Perspektivgestaltung bemerkt man dies erst einmal gar nicht. Im Zuge der Lektüre werden nur die gewohnten Wahrnehmungsmuster zart und beinahe unmerklich irritiert. Man beginnt sich zu wundern, was an der Darstellung so ungewohnt ist - bietet der Inhalt doch keine großen Überraschungen. Es stellt sich ein angenehmes Fremdsein der Wahrnehmung ein und die Gründe schälen sich erst nach und nach heraus, wenn man versucht, der Wirkmächtigkeit nachzuspüren.

Durch das Fehlen der gewohnten Klassifikationsschemata und wahrnehmungsordnenden Filter erkennt man, in wie starker Weise unsere Weltbegegnung von unseren permanenten Wertzuschreibungen und Kommentierungen bestimmt ist. Dass wir eben nicht mehr in der Lage sind, im Einklang mit der uns umgebenden Welt zu sein. Wir haben unsere kindliche Naivität verloren. Dass darin natürlich auch ein Aufstieg zur Freiheit und Reflexion besteht, soll nicht geleugnet werden. Das unreflektierte Einssein ist der Preis, den Freiheit und Reflexion fordern. Perry aber besitzt diese kindliche Naivität noch und die Bewohner von Santa Lucia wieder.

Glücklich werden Perry und ihre Großmutter in dem Moment, in dem sie alle Regeln und Ordnungen zumindest spielerisch hinter sich lassen. Selbst in der Sprache bzw. dem Alphabet, einem hoch konventionalisierten Zeichensystem und Grundelement unserer Kultur, kann eine naive Anarchie, die sich der Sprache spielerisch und einfach aus Lust bedient, Neues ermöglichen. Wortspiele und Wortneuschöpfungen sind dann an der Tagesordnung. Die naive Anarchie zeigt sich, wenn die Erwachsenen an die Ordnungen und Regeln gemahnen: ""'Das Wort >dümmerer< gibt es nicht' sagten die Eltern gleichzeitig. Perry schaute von dem Bild auf, das sie malte. … ‚Jetzt schon' sagte sie."" (8-9) Sprache ist Werkzeug und Werkzeuge sollen einem Ausdruckszweck dienen - und ""dümmerer"" kann dies leisten.

Aber schon Schiller hat in seinem Aufsatz ""Über naive und sentimentalische Dichtung"" festgehalten, dass eine einfache Rückkehr zur Natur bzw. naiven Dichtweise in unreflektierter Unschuld nicht mehr möglich ist. Dieser Roman kann durch den Kniff der erzählerischen Gestaltung als eine moderne Adaption sentimentalistischen Erzählens schiller´scher Provenienz bezeichnet werden. In reflektierter Naivität wird uns ein Spiegel vorgehalten und Reflexion über unser Welt- und Naturbegegnung angeregt. Der Spiegel stellt sich aber als eine durchscheinende Fläche dar, die nur ab und an, abhängig von der Blickrichtung und Haltung des Lesers, zur Spiegelfläche wird. Auch wenn man durch sie hindurch liest, kann der Roman das stille Gefühl der Erfüllung eines nicht wahrgenommenen Wunsches ermöglichen.

Beim Lesen dieser Besprechung mag einem nun Zweifel kommen, ob es sich um ein Kinder- und Jugendbuch handelt. Und dieser Zweifel erscheint mir durchaus am Platze. Denn der handlungs- und intrigenarme Roman bietet für Leser, die noch wenig Erfahrung im komplexen Zeichen- und Verweissystem literarischer Darstellungsweisen haben, wenig Anknüpfungspunkte. Dieser Roman verlangt nach einem ästhetischen Lesemodus, der bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 10-14 Jahren nur selten in notwendiger Ausprägung zu erwarten ist. Und für ältere Jugendliche bietet der Roman kaum noch inhaltliche Schnittstellen. Für Erwachsene aber ist dieser Roman ein Kabinettstückchen literarischer Kommunikation.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von jhe.
Veröffentlicht am 01.01.2010

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