Der weiße Drache und andere vergessene Gestalten

Autor*in
Córdova, Adolfo
ISBN
978-3-96428-135-7
Übersetzer*in
Jacoby, Edmund
Ori. Sprache
Spanisch
Illustrator*in
Blanco, Riki
Seitenanzahl
123
Verlag
Jacoby & Stuart
Gattung
Märchen/Fabel/SageBuch (gebunden)
Ort
Berlin
Jahr
2022
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiKlassenlektüre
Preis
0,00 €
Bewertung
empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Was haben das Einhorn aus dem Tapferen Schneiderlein, der Jäger aus Rotkäppchen und die 12 guten Feen aus Dornröschen gemeinsam? Sie sind Nebenfiguren. Meist kreuzen sie nur kurz den Weg des Helden/der Heldin, die Helfershelfer. Manchmal verschmelzen sie mit der Kulisse, wie ein Bettler an einer Straßenecke. Haben sie nicht eine eigene Geschichte? Das vorliegende Buch versucht einige der Randfiguren in den Vordergrund zu rücken.

Beurteilungstext

In Videospielen wird zwischen PCs "player characters" (menschlichen Mitspielern) und NPCs "non player characters" (computergesteuerte Figuren) unterschieden. NPCs sind Teil des Programmcodes und des Spiels. Sie tragen zu seiner Handlung und Atmosphäre bei. Sie unterstützen den Spieler/die Spielerin als Begleiter*in, vergeben Aufgaben (sogenannte Quests), stellen sich ihm/ihr als Feinde entgegen oder sind Teil des Stadtlebens, wie eine Händler*in in einem Geschäft. Gemeinsam ist ihnen ein vorprogrammiertes und begrenztes Verhalten. Deswegen werden sie meistens als leblose Objekte betrachtet und behandelt. Ähnlich ist es mit den Nebenfiguren in Erzählungen. Ihre Bedeutung geht bis zur Grenze, wo sie zur Hauptfigur werden würden. Wie wäre es, wenn sie doch mehr wären und ihre eigene Geschichten hätten?
Adolfo Córdovas "Der weiße Drache und andere vergessene Geschichten" ist von diesem Gedanken inspiriert. Die Nebenfiguren sind wie leere Seiten, die darauf warten, gefüllt zu werden. Aber nicht alles findet auf ihnen Platz. Córdova konzentriert sich auf rätselhafte Gestalten, die wie Versprechen aus der Ursprungsgeschichte herausragen und manchmal allein wegen ihres Names eine Sehnsucht beim Lesen nach mehr erzeugen. Die Lust auf mehr, kann zu verschiedenen Ergebnissen führen. Vorher schon, z. B. in Tom Stoppards "Rosenkranz und Güldenstern", werfen hier Nebenfiguren einen anderen Blick auf das bisherige Hauptdrama "Hamlet". Die Nebenfiguren funktionieren an dieser Stelle wie eine Lupe, durch die eine neue Sicht, eine neue Bedeutung möglich wird. Allerdings werden sie dadurch erneut ihrer eigenen Existenz beraubt und bleiben dadurch Mittel zum Zweck. Córdova will keine Held*innen beschreiben und damit das bereits Erzählte wiederholen.
Die Nebenfiguren erhalten ein neues Leben in diesem Sammelband zusammen mit einem eigenen Layout und Illustrationen. Die Illustrationen nehmen eine Seite, manchmal eine Doppelseite ein. Sie fangen einzelne Momente und damit auch die von den Geschichten beschriebene räumliche Umgebung ein, was eine atmosphärische Wirkung verursacht. Für die an Scherenschnitte erinnernden Bilder wurden einfache Farbtöne verwendet, die durch ihre Hell-Dunkel-Kontraste halblebendig erscheinen. Eine Lebendigkeit, die mehr an Geister oder Traumgestalten erinnert – Schatten eines vollen Lebens. Hinzu kommen die Texte, die sich nicht an das Genre oder den Stil der Herkunfsgeschichte halten und so Startpunkte für neue Erzählzusammenhänge legen. So wird die Geburt eines fliegenden Affens aus dem Zauberer von Oz in der Form eines Ursprungsmythos' erzählt.
Es lässt sich jedoch gar nicht so einfach festlegen, was das eigentlich für Geschichten sind, denn gleichsam wird die Geburt als Verwandlung detailliert beschrieben, wie im Horror-Genre. Die Handlung steht über der Bedeutung. Im Vorwort heißt es: "Da sie keine Helden sind, können ... sie schneebedeckte Bergspitzen erkunden, ohne damit etwas anderes zu bezwecken, als ... staunen ... ." Bildlich und sprachlich führen Bilder und Texte so in eine Traumlandschaft aus den Ursprungserzählungen heraus zu neuen Erzähllandschaften.
Diese Erzählungen lassen sich vielleicht am besten als Kunstmärchen beschreiben, als Erzähl- und Sprachspiele die mit klassisch-traditionellem Material einen Beitrag zu unserem Alltag leisten. Sie suchen nach neuer Magie in alten Mustern, nach Lücken zum Träumen. Leser und Leserinnen sollen nicht sagen können: "Die Geschichte kenne ich schon." Jenseits der Hauptstraßenerzählungen liegen die Nebenstraßen und beginnt irgendwo die Wildnis der Träume und dieses Buch erkundet, was es dort zu entdecken gibt.

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Diese Rezension wurde verfasst von Thomas Bitterlich; Landesstelle: Sachsen-Anhalt.
Veröffentlicht am 30.10.2023