Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten

Autor*in
Gerster, Petra
ISBN
978-3-522-30419-1
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Schautz, Irmela
Seitenanzahl
208
Verlag
Thienemann
Gattung
Ort
Stuttgart
Jahr
2016
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
14,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Der 31. Oktober 2017 wird in ganz Deutschland als Feiertag begangen. Warum? Die Autoren interpretieren, aktualisieren und hinterfragen in 18 faktenreichen Kapiteln das Leben und Wirken des Reformators Martin Luther. “Was Luther unter Lebensgefahr sagte und tat und wie er später mit seiner Frau wirkte, hat nicht nur die Weltgeschichte verändert, sondern Auswirkungen bis in unsere Zeit.” (Klappentext)

Beurteilungstext

In diesem Sachbuch wird anschaulich geschichtliches Vorwissen aus der Schulzeit über die Reformation aktiviert und gestützt auf neuere Sekundärliteratur weiterführend vertieft und entmystifiziert. Im Quellenverzeichnis findet man z. B. das Jugendbuch “Widerrufen kann ich nicht”, verfasst vom Pfarrer Arnulf Zitelmann (Die Lebensgeschichte des Martin Luther; Belz und Gelberg ,1993). Auch Christian Nürnberger nimmt den Leser mit auf eine chronologische Zeitreise durch das Leben und Werk Luthers - “für die einen der große Reformer, der geniale Übersetzer der Bibel, für die anderen lediglich ein Unruhestifter und Kirchenspalter.” (Klappentext) Mit journalistischem Gespür und zeitgemäßem Vokabular modernisiert der Autor das Geschichtsbild über die Reformation, indem er die Ereignisse aus heutigem Blickwinkel kommentiert und sich wertend zu ihnen in Beziehung setzt. Er warnt dabei vor einer Verklärung und Vereinnahmung Luthers, vor einer Vermarktung des Reformationsjubiläuns rund um Wittenberg. “Da sind heute 80 Prozent der Bevölkerung konfessionslos... Statt Marketing müsste man eigentlich christliche Missions - und humanistische Bildungsarbeit betreiben...” (S.190)
Humanistische Bildungsarbeit, die auch Jugendliche thematisch und emotional berührt, leistet das Kapitel HERR KÄTHE, verfasst von Petra Gerster. Anhand des Lebensbildes der entlaufenen Nonne Katarina von Bora, die schließlich den 16 Jahre älteren “Ex-Mönch” heiratet, erörtert sie Probleme von Liebe, Sex, Ehe und Familie in Zeiten des Patriarchats. Ihre Darstellung geht über die Abschaffung des Zölibats, die “ Lutherische Familienidylle” als Vorbild für eine “gottgewollte” kinderreiche Ehe hinaus. Bezugnehmend auf Briefe Luthers, der u.a. schreibt: “Meine Katharina macht aus diesem verrotteten Kloster (heute Lutherhaus in Wittenberg) ein Paradies auf dieser dunklen Erd...” schildert Petra Gerster anschaulich, wie “Herr Käthe” einen mittelständischen Betrieb mit Wohnhaus und Landwirtschaft drum herum leitet...” (S.150) Das verbildlicht auch die Illustration. Sie zeigt die Lutherin in ganzer Größe, umrahmt von unterschiedlichsten Tätigkeiten, die detailliert in Szene gesetzt sind. Autorin und Illustratorin porträtieren Katharina als Anschauungsbeispiel für die beginnende Emanzipation einer Frau, die das traditionelle Rollenverhalten ihrer Zeit - Kirche, Küche und Kinder - vielfach durchbrach.
Der Autor Christian Nürnberger beherrscht die Kunst der Wissensvermittlung in Einheit von Unterhaltung und Belehrung. So kann das Kapitel DIE ERFINDUNG DER DEUTSCHEN SPRACHE DURCH JUNKER JÖRG den Schulunterricht in der Sekundarstufe bereichern, weil es hilft, Schubkastenwissen zu vermeiden. Die heimliche “Zwangsinternierung” des für ”vogelfrei” erklärten Luthers auf der Wartburg wird spannend geschildert. Dort übersetzt das Sprachgenie in Teamarbeit, u.a. mit Melanchthon die Bibel in die mitteldeutsche Kanzleisprache. Auf der Suche nach treffenden Ausdrücken entstehen Wortschöpfungen, die heute zum sprachlichen Allgemeinschatz gehören. Die originelle Illustration zeigt zum Mitraten ein Wortpuzzle auf Luthers Schreibtisch. (S.105)
Als ob es sich um aktuelles Geschehen handele, wird in mehreren Kapiteln der Thesenanschlag im Oktober 1517 in seiner politischen Bedeutung für die Reformation erklärt. Mit Hilfe des Buchdrucks wird Luther “zum ersten Bestsellerautor der Welt, der dem päpstlichen Religionsbussiness die Geschäftsgrundlage entzieht. “ (S.42, 68) Gleichzeitig wird vor einer Glorifizierung Luthers gewarnt, der vielfach im mittelalterlichen Denken befangen blieb, an die Hölle und den Teufel, an die gottgegebene soziale Ungleichheit der Menschen glaubte, sich vom Bauernkrieg distanzierte und Hasstexte gegen Juden und Osmanen verfasste.
Luther wird als protestantischen Theologe gewürdigt, der unter Berufung auf die Bibel ein neues Gottesbild schuf, das die Freiheit des Glaubens in den Mittelpunkt rückt, das Lehre und Praxis der katholischen Kirche hinterfragt, so dass im Laufe der Jahrhunderte neben der lutherischen weitere reformatorische Kirchen in aller Welt entstehen konnten, die sich um das wahre Gottesbild streiten. Das Kapitel DER BLUTIGE KAMPF UM DIE WAHRHEIT beschäftigt sich mit theologischen Disputen ( um Kopernikus, Dürer, Lukrez) und mit dem blutig ausgetragenen 30 -jährigen Krieg, der die Kirchenspaltung manifestierte.
Akzente der Lutherverehrung in wechselnden Zeiten verbildlicht die Illustration in einer Ikonographie von 18 passbildgroßen Porträts. Man sieht den Reformator mit Buch und Schwert, Hakenkreuz und Heiligenschein und der Lutherrose. Letztere ziert als Vignette auch die aussagekräftigen Kapitelüberschriften.
Abschließend gibt sich Christian Nürnberger als evangelisch - lutherisch Christ zu erkennen und stellt aus dieser Sicht zeitgemäße Fragen: “Warum können wir uns nicht auf eine einzige große evangelische Kirche einigen? Wäre es nicht angebracht, 500 Jahre nach Luther mit der katholischen Kirche einen Neuanfang zu versuchen? Wozu braucht man die Protestanten noch? (S.190)
Eine persönliche Antwort gibt der Autor im letzten Kapitel PROTESTANTEN - WARUM DIE WELT SIE GERADE JETZT BRAUCHT: Protestanten haben dank ihrer Lektionen aus der Vergangenheit gelernt, in der Welt mitzuwirken, aber sich gleichzeitig zurückzunehmen. Deshalb ist der Protestantismus so zeitgemäß und - für mich - unter allen Glaubensgemeinschaften eine der fortgeschrittensten und daher so gut geeignet, im Dialog der Religionen eine führende Rolle zu spielen.” (S. 201)
Die ganz- oder doppelseitigen, farbigen ausdrucksstarken Illustrationen von Irmela Schautz erzwingen viele Assoziationen beim längeren Betrachten. Sie porträtieren Luther in verschiedenen Lebensetappen. Sie vermischen in der Bildsprache mittelalterliche mit zeitgemäßen Details und enthalten hintergründig viele grafische Elemente, z. B. alte Landkarten, eingeblendete altdeutsche Schrift, die zugleich ver- und entschlüsseln.
Das ausführliche Quellen- und Literaturverzeichnis ist eine Fundgrube für den interessierten Leser. Eine Zeittafel zum raschen Nachschlagen biografischer und bibliografischer Fakten vermisst man.


















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Diese Rezension wurde verfasst von Kra.
Veröffentlicht am 01.10.2017

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