Der erste Schritt

Autor*in
Lindenbaum, Pija
ISBN
978-3-95470-276-3
Übersetzer*in
Hemer, Jana
Ori. Sprache
Schwedisch
Illustrator*in
Lindenbaum, Pija
Seitenanzahl
48
Verlag
Klett Kinderbuch
Gattung
BilderbuchBuch (gebunden)
Ort
Leipzig
Jahr
2023
Lesealter
4-5 Jahre6-7 Jahre8-9 Jahre10-11 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
BüchereiVorlesen
Preis
18,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

An einem entlegenen Ort leben „richtig viele Kinder“, eine „Schäfin“ bestimmt den Tagesablauf. „Die Ringelblumen“ und „die Primeln“ wohnen in verschiedenen Häusern und verbringen die Tage höchst unterschiedlich. Während die eine Gruppe spielt oder im See badet, muss die andere Schuhe putzen oder Steine schleppen. Aber ein Ringelblumen-Kind überlegt: Was geschieht, wenn sie ihre Kleidung und die Aufgaben tauschen? Was ist, wenn sie über die Grenzlinie gehen? Wer wagt den „ersten Schritt“?

Beurteilungstext

Auf den ersten Seiten dieser Geschichte sieht das Leben der Kinder recht idyllisch aus. Ihre Gruppenhäuser liegen in einer märchenhaften Bergwelt, es gibt viel Platz zum Spielen, einen See, einen Wald; manchmal sehen die „Ringelblumen“ richtig fröhlich aus. Sie malen und trommeln, hüpfen auf dem Trampolin, fahren mit kleinen Booten auf dem See herum oder baden. „Die Schäfin“ - eine Art Hund in Menschenkleidern - bestimmt alles, sie ist eben der Chef und gibt das Programm und die Regeln für die Gruppen vor. Das nehmen die Mädchen und Jungen so hin, denn sie „hat viele gute Ideen“, meint die Ich-Erzählerin, eines der Ringelblumenkinder. Dieses Mädchen ist nicht ganz so fügsam wie die anderen; wir erkennen sie immer wieder an einem Armband, das sie unter der blauen Schuluniform versteckt trägt, damit die „Schäfin“ es nicht entdeckt. Die Kinder der Ringelblumen-Gruppe sind ansonsten kaum voneinander zu unterscheiden, sie tragen die gleichen blauen Kleider und bekommen jeden Mittwoch einen Einheits-Haarschnitt.

Dann sind da auch noch die Primel-Kinder. Sie tragen graue und schlichtere Kleidung, müssen alle Arbeiten erledigen und haben nie Zeit zum Spielen, sie kennen keine Bücher, dürfen nicht singen und sollen immer still sein. Sogar schwere Steine müssen sie schleppen! Der Ich-Erzählerin fallen die Unterschiede im Tagesablauf der Gruppen immer stärker auf, sie findet das ungerecht und beschwert sich bei der „Schäfin“. Diese meint jedoch: „Das soll hier auch ungerecht sein. Ich mag es, wenn es ungerecht ist.“ Der Kleinen macht das Leben als Ringelblumen-Kind nun keinen Spaß mehr und sie heckt einen Plan aus. „Wir tauschen Kleider und alles“, überzeugt sie die anderen Kinder und so wechseln sie die Rollen. Dann versteckt sie auch noch den Haarschneidetopf, bald wachsen ihnen allen neue Frisuren. Unterschiede im Aussehen treten deutlicher hervor und die beiden Gruppen „geraten immer weiter durcheinander. Niemand achtet mehr genau darauf.“

Als eines Tages den Kindern beim Spielen der Ball über die Grenzlinie fliegt, trauen sich einige der sonst so folgsamen Jungen und Mädchen auf die andere Seite. „Kein Blitz und kein Flammenmeer“ trifft sie als Strafe, wie ihnen angedroht worden war. So gehen jetzt auch alle anderen zögernd über die weiße Linie; sie sind ganz leise, damit die „Schäfin“ es nicht bemerkt. Am Ende der Geschichte sieht man die Gruppe ihre Bergsiedlung verlassen. Die Kinder wollen nun selbst „die Bestimmer“ sein, sie werden sich zusammen eine große Wohnung suchen oder Eltern, die „Platz haben“. „Die Schäfin kann ja ruhig hinter der Linie bleiben. Wenn sie das so toll findet.“

Pija Lindenbaum hat die Geschichte für Kinder verständlich und nachvollziehbar geschrieben. Schnell werden sich die zuhörenden Jungen und Mädchen mit der Ich-Erzählerin identifizieren können, über die sonderbare Gemeinschaft staunen und die unterschiedlichen Lebenswelten der Gruppen wahrnehmen. Die farbigen, ganzseitigen Illustrationen veranschaulichen das Geschehen. Es gibt viele Details zu entdecken, Gesichter und Körperhaltung der Figuren zeigen deutlich die Gefühle der Personen.

Es ist nicht einfach, diese ungewöhnliche Geschichte einzuordnen. Mit ihren märchenhaften Zügen und den Anklängen an eine Dystopie werden Leser und Leserinnen angeregt, über Normen, Gerechtigkeit und Freiheit nachzudenken. Eine Welt wie die dargestellte gibt es nicht, das wird durch die Phantasiegestalt der „Schäfin“ sofort klar. Erwachsene werden aber wissen, dass soziale Zuordnungen und Ungerechtigkeiten auch in der Realität stattfinden. Oft sind es gerade Kinder und junge Menschen, die uns mit ihren neugierigen Fragen anregen, über gesellschaftliche Themen ins Gespräch zu kommen. Warum lebt der Klassenkamerad so anders? Weshalb wirkt der Alltag im anderen Stadtteil oder im Urlaubsland so ungewöhnlich? Was ist gerecht, was ungerecht? Können wir uns die Freude im Leben nur leisten, wenn andere für uns die schweren Arbeiten verrichten? Ist es besser, gesagt zu bekommen, was gut für uns ist? Oder darf man selbst ausprobieren, welcher Weg der richtige ist?

Schon mit Vorschulkindern kann man beim gemeinsamen Lesen des Buches gut über diese Fragen ins Philosophieren kommen. Der optimistische Schluss hebt die beklemmende Stimmung der Geschichte auf und macht Kindern und Erwachsenen Mut, ungewohnte Wege einzuschlagen und Neues zu wagen. Das Buch ist sehr empfehlenswert zum Vorlesen in Kindergartengruppen und Grundschulen, es bildet eine hervorragende Gesprächsgrundlage für die Auseinandersetzung mit den oben genannten Fragen. Auch Jugendliche und Erwachsene kann es noch anregen, über soziale Grenzlinien im eigenen Leben nachzudenken.

Pija Lindenbaum gilt als eine der bedeutendsten Bilderbuchkünstlerinnen Schwedens und wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2012 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Bei Klett Kinderbuch ist bereits „Wir müssen zur Arbeit“ erschienen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von Dagmar Haunert; Landesstelle: Niedersachsen.
Veröffentlicht am 06.05.2023

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