Das Ting

Autor*in
Dziuk, Artur
ISBN
978-3-423-23006-3
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
464
Verlag
dtv
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
München
Jahr
2019
Lesealter
ab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Fachliteratur
Preis
10,90 €
Bewertung
empfehlenswert

Teaser

Diese App wird das Leben der Menschen verändern! „Das Ting“ misst mit einem ausgeklügelten Sensorium die Körperfunktionen der Nutzer, analysiert die Umgebung und wertet z. B. Gespräche aus. Auf der Grundlage dieser Daten gibt die App ihren Anwenderinnen und Anwendern konkrete und individuelle Handlungsempfehlungen. Oder sind es gar keine „Empfehlungen“? Sondern Anweisungen, die eine komplette Fremdbestimmung verursachen? Dziuks Roman wagt die Auseinandersetzung mit Fragen aus der Grauzone zwischen Technologie und Ethik.

Beurteilungstext

„Das Ting“ ist der Debütroman des 1983 geborenen deutsch-polnischen Autors Artur Dziuk. Erzählt wird die Geschichte eines Berliner Start-Up-Unternehmens, wobei Fragen der technologischen Innovation und betriebswirtschaftliche Einlassungen die Folie bilden, vor welcher die Entwicklung der Persönlichkeiten der Protagonisten reflektiert wird. Der Roman ist in drei annähernd gleich große Teile gegliedert. Diese sind zwar lediglich mit „Teil Eins“ etc. benannt, könnten aber durchaus auch konkrete Titel tragen: „Aufbruch“, „Konsolidierung“ und „Persönliche Konsequenzen“. In jedem Teil werden lange Passagen aus der Sicht einer der vier Protagonistinnen bzw. Protagonisten in der dritten Person dargestellt. Linus Landmann ist Ende zwanzig und leidet darunter, seinem Leben keine konkrete Richtung geben zu können. Die Beziehung zur langjährigen Partnerin Kira steckt in einer Sackgasse, seine Promotion hat er abgebrochen und wiederholt scheitert er bei Auswahlverfahren für Jobs. Aber Linus hat eine Leidenschaft – die Idee einer App, die das Leben optimieren, Entscheidungen sicherer und erfolgreicher machen und die vor Fehlern warnen kann. Seit Jahren arbeitet er an einem Prototyp. Adam Strzela hat viel erreicht. Er arbeitet bei der global tätigen Unternehmensberatung „Strindholm Consulting“ und gilt als erfolgreicher „Macher“. Bemerkenswert für einen jungen Mann mit Migrationshintergrund und kaputter Familie. Eine illegale Geschäftspraxis sorgt allerdings für seinen gnadenlosen Rauswurf bei Strindholm. Linus und Adam waren während ihres Studiums befreundet; ein Vertrauensbruch seitens Adams sorgte dafür, dass der Kontakt vor Jahren abbrach. Niu ist erst Anfang zwanzig. Sie lebt ein äußerst eingeschränktes Leben, versucht ihre Sozialphobien in den Griff zu bekommen und verfügt über nahezu keine Kontakte zu anderen Menschen. Aber sie ist eine geniale Programmiererin; Quellcodes sind ihre eigentliche „Muttersprache“. Komplettiert wird das Quartett durch Kasper Strindholm, dem 35jährigen Sohn des Patriarchen der Beraterfirma. Seine jüngere Schwester wird bei der Nachfolge für die Geschäftsführung vorgezogen, was Kasper veranlasst, wütend und verletzt die Brücken zur Familie abzubrechen.
Die vier grundverschiedenen Menschen finden auf verschlungenen Wegen in der Gründung ihres Start-Ups zusammen. Während Linus und Niu die Entwicklung der App vorantreiben, kümmern sich Adam und Kasper um die Akquise von Geldgebern und die Außendarstellung. Das junge Unternehmen erregt schnell Aufmerksamkeit; das Produkt wird innerhalb weniger Monate an die Schwelle zur Serienreife geführt. Am Ende liegt ein lukratives Übernahmeangebot von Google auf dem Tisch; Kasper zwingt die anderen Gründer mit teils erpresserischen Methoden dazu, dieses anzunehmen.
Dziuk erzählt auf der einen Seite eine zeitgenössische Unternehmenssaga, angesiedelt in der „hippen“ und „angesagten“ Welt der Start-Ups und der mehr oder minder kreativen jungen Gründergeneration. Manches wird klischeehaft überzeichnet – so die Tatsache, dass sich das neue Unternehmen ausgerechnet in einer früheren Kirche ein Domizil schafft; mit allem, was vorgeblich dazugehört – vom eigenen Serverraum bis zum veganen Frühstücksbuffet für die Belegschaft. Viele Mechanismen werden aber anschaulich und spannend beschrieben; nicht zuletzt die gnadenlose Gewinnorientierung in der scheinbar lockeren Start-Up-Blase.
Im Zentrum steht aber die Frage, welche Grenze es für neue technologische Ideen geben kann, sollte oder sogar müsste; wo ethische Grenzen greifen, wenn Technologien die Autonomie des Individuums konterkarieren. Artur Dziuk komponiert einen kraftvollen, vielschichtigen und stimmigen Roman, der sich den drängenden Fragen nach der Verantwortung der Menschen für technische Innovationen stellt und sich auf eine spannende Diskussion um „Künstliche Intelligenz“, ihre Chancen und Risiken, einlässt, ohne moralische Wertungen vorzugeben. Das berühmte Axiom des SF-Autors Isaac Asimov, das KI niemals den Menschen schaden dürfe, wird von vielen Seiten beleuchtet; wobei die Lesenden selbst zu Haltungen gelangen müssen. Alle vier Gründer und Anteilseigner des „Ting“ installieren sich selbst die Beta-Version der App und probieren sie mit höchst unterschiedlichen Ergebnissen aus. Bei Kasper verursacht sie in erster Linie Zweifel – weniger ethischer, als vielmehr praktischer Natur. Adam ist anfangs enthusiastisch und überzeugt; bemerkt aber, dass die Empfehlungen ihn ins soziale Abseits führen und ihm nicht helfen werden, ein schreckliches gesundheitliches Problem in den Griff zu bekommen. Niu verzweifelt beinahe, als sie feststellen muss, dass ausgerechnet sie, die das Programm entwickelt hat, überhaupt keine Empfehlungen bekommt. Am spannendsten wird der Prozess des „Kampfes“ mit der App bei Linus dargestellt. „Das Ting“ drängt ihn massiv, sich von seiner Freundin zu trennen, es überlastet ihn mit Arbeit und erdrückt ihn. Am Ende aber kommt er zur Einschätzung, dass gerade in seinem scheinbaren kompletten Scheitern eine bislang ungekannte Art von Freiheit auf ihn wartet.
Dziuks Roman ist komplex, rasant erzählt und birgt ein großes Reflexionspotenzial. An manchen Stellen überfrachtet der Autor seine Figuren mit zu vielen Entscheidungsmomenten und Wendungen in der Handlung. Insgesamt aber sind die dargestellten Entwicklungen glaubwürdig. Das Buch eignet sich nur für Leserinnen und Leser der Abiturstufe; möglicherweise lässt es sich im Rahmen von Projekten zu den Gebieten Ethik/Philosophie; IT(-Ethik) und Soziologie einsetzen.

Für namentlich oder mit Namenskürzel gekennzeichnete Beiträge und Beurteilungen liegt die presserechtliche Verantwortung beim jeweiligen Autor bzw. bei der jeweiligen Autorin.

Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 07.09.2021