Das Paradies der Täter

Autor*in
Seidel, Jürgern
ISBN
978-3-570-15577-6
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
397
Verlag
Gattung
Ort
München
Jahr
2013
Lesealter
14-15 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
16,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

1952 in Argentinien. Tom Blume, 17, ist mit seinen Eltern aus Deutschland ""ausgewandert"" und lebt sich in der deutschen Schule ein. Nazikinder und die Kinder geflohener Juden gehen in eine Klasse, die Konflikte sind vorprogrammiert. Tom verachtet seinen Vater, weiß aber nicht, was der als SS-Mann getan hat. Der Vater schweigt, der Sohn verliebt sich in die schöne Jüdin Walli. Der Kampf der Arier gegen Juden ergreift jeden, die Alten beherrschen das Feld.

Beurteilungstext

Eine Herz ergreifende Liebesgeschichte zwischen der selbstbewussten Walli und dem unsicheren, suchenden Tom wird überlagert von der unbewältigten Vergangenheit der Deutschen im argentinischen Exil. Es ist eine absurde Situation, die den Leser erwartet: Naziverbrecher und Naziverfolgte leben zusammen in der Stadt La Plata, ihre Kinder besuchen gemeinsam dieselbe Schule. Hier verschränken sich pubertäres Rowdytum und Naziideologie, nicht immer sind die Fronten klar. Die Gegensätze fokussieren in Tom Blume, der die Nazis verachtet, der von seinem Vater bei der bloßen Frage nach dem, was der im Krieg getan habe, geohrfeigt wird. Eine Auseinandersetzung findet nicht statt. Tom lässt sich eine KZ-Nummer tätowieren, nur um seinen Vater zu provozieren. Dies ist zwar erfolgreich, führt aber auch nicht weiter.
Der erste Schritt in die neue Schule ist für Tom, in einen unfairen Kampf zwischen Schülern einzugreifen - er kennt keinen von ihnen. Die Unterlegenen sind Juden, die in ihm jetzt einen Helden sehen, und fortan spielt Tom die Rolle eines Juden, eigentlich ohne Absicht und ohne jede Ahnung vom Judentum. Walli lernt er erst nach dem Kampf kennen und später - als auch sie sich in ihn verliebt hat - leidet er unter schlechtem Gewissen: er will sie nicht belügen und kann dennoch nicht zugeben, dass er Nazisohn ist. Walli spürt, dass etwas nicht stimmt und bringt ihn dazu, alles zu erklären. Tief enttäuscht erzählt sie das anderen Freunden und Tom muss seine Liebe und Treue unter Beweis stellen - was er nicht ganz zuwege bringt. Da wird Walli entführt und die gemeinsame Suche führt die Freunde zusammen. Ihr Aktionismus führt sie fast in eine Katastrophe, nicht aber ans Ziel, weil Walli
nicht von anderen Jugendlichen entführt wurde, sondern in die Mühlen der Erwachsenenkämpfe geraten ist. Hier geht es um Dokumente, die die sich nach wie vor als Herrenmenschen gerierenden Deutschen entlarven und der Mossad anheim gegeben werden sollen. Darüber wechseln zwei Frauen die Seiten, eine ist Toms Mutter, die sich auf einmal von ihrem Mann nichts mehr gefallen lässt. Daran zerbricht der Vater und stirbt nach einer langen, zermürbenden und ihn demütigenden Krankheit. Tom könnte triumphieren, aber so sehr er den Vater auch verachtet - er tut ihm schließlich nur noch leid. Sein Triumph ist vielmehr, dass der Vater jetzt Toms jüdische Freundin und seine Freunde kennen lernt und nichts mehr dagegen unternehmen kann.
Jürgen Seidel beschreibt lebensnah die inneren Konflikte des Helden, der sich gar nicht weiter mit der Ideologie der Nazis auseinandersetzt, wohl aber einen klaren Standpunkt gegenüber den Naziverbrechen hat. Es geht also gar nicht um Nazis, um das Dritte Reich, sondern um die Lügen, die jeder um sich aufbaut, um vor den anderen gut dastehen zu können. Und er beschreibt die Kinder der Nazis, die voll und ganz hinter der Ideologie ihrer Eltern stehen, die Zwillinge eines Charitéarztes, dessen medizinische ""Experimente"" viele Menschen das Leben kosteten, sind eigentlich reine Karikaturen, dennoch gab es solche verbohrten Menschen, nur aus heutiger Sicht erscheinen sie so absurd. Deren Vater ist völlig ungebrochen, er fühlt sich mächtig - und er ist es auch. Juan Perón und seine Evita werden vom Volk verehrt und er schützt die Nazis, die er ins Land geholt hatte. Die Juden sind ihm egal, aber in den Nazis sieht er Spezialisten, die ihm nützlich sind.
Das Colegio Friedrich, die Schule der Kinder, ist sehr genau in seinen Gliederungen beschrieben. Es gibt die guten Lehrer und die Opportunisten, Engagierte und Gleichgültige. Die Erziehungsmethoden sind nicht unbedingt die des 21. Jahrhunderts, aber die Menschen sind echt. Der Lehrer, der den Charitéarzt überführen will, wird lebensgefährlich verletzt, seine Dokumente kommen in die Finger der Täter.
Aber es bleiben Reste. Es bleibt die Hoffnung, dass die Täter doch noch überführt werden. Leider entspricht es der Realität, dass weder der deutsche Staat noch die deutsche Justiz daran auch nur im Entferntesten beteiligt sind.
Es gibt wenig Literatur über den Zusammenprall von Tätern und Opfern nach dem Kriege, dies ist ein Buch, das nicht nur politisch oder historisch Interessierte packt.
Auf der Auswahlliste des LesePeters.cjh13.06

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Diese Rezension wurde verfasst von cjh.
Veröffentlicht am 01.01.2010