Das Nao in Brown

Autor*in
Dillon, Glyn
ISBN
Übersetzer*in
Zimmermann, Volker
Ori. Sprache
Englisch
Illustrator*in
Dillon, Glyn
Seitenanzahl
208
Verlag
Egmont
Gattung
Comic
Ort
Köln
Jahr
2014
Lesealter
14-15 Jahre16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
29,99 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Die weibliche Hauptfigur Nao Brown, Mitte 20, lebt in einer Londoner Zweier-WG, jobbt in einem Laden für Roboterspielzeug und geht ab und an für Meditationsübungen in ein buddhistisches Zentrum. Zudem phantasiert Nao in Tagträumen, wie sie Leuten aus ihrem Umfeld mit einem spitzen Stift die Kehle durchsticht, sie vor die U-Bahn schubst oder ihnen nonchalant das Genick bricht. Bis die Liebe in Gestalt eines Waschmaschinen-Installateurs ihr Spielwarengeschäft betritt...

Beurteilungstext

Das Graphic Novel Debüt des englischen Storyboarders Glyn Dillon ist alles andere als klassische Comic-Parodie, denn stereotyp ist hier absolut nichts. Jede Erwartung des Lesers wird unterlaufen, und die Pointe oder Moral dieser absurden Liebesgeschichte ist nur zwischen den Zeilen – Pardon – den Panels versteckt. Die weibliche Hauptfigur Nao Brown, Mitte 20, lebt in einer Londoner Zweier-WG, jobbt in einem Laden für Roboterspielzeug und geht ab und an für Meditationsübungen in ein buddhistisches Zentrum, wo sie gemeinsam mit älteren Männern bedeutungsschwangere Kreise auf Papier malt. Zudem phantasiert Nao in Tagträumen, wie sie Leuten aus ihrem Umfeld mit einem spitzen Stift die Kehle durchsticht, sie vor die U-Bahn schubst oder ihnen nonchalant das Genick bricht. Bis die Liebe in Gestalt eines Waschmaschinen-Installateurs ihr Spielwarengeschäft betritt...

Was sich zunächst als ein amüsant-witziger Slapstick darbietet, entblößt sich im Lauf der Geschichte als ernstzunehmender Fall psychischer Obsession. Nao leidet unter abnormalen Zwangsvorstellungen und kann diesen Mord- und Gewaltphantasien nicht entkommen. Diese permanente Belastung und Anspannung führt wiederum zu Schüben von Selbstverachtung und Regression. „Ich bin böse“, sagt Nao sich immer wieder, aber „Mama weiß, dass ich eigentlich gut bin.“ Dillon macht diese Zwangsvorstellungen nicht zum Hauptthema, sondern integriert sie gleichberechtigt neben den anderen Sujets seiner Erzählung: Naos Freundschaft zu ihrem Studienfreund Steve, die sich anbahnende (Liebes-)Beziehung zum Antihelden Gregory, sowie der verrückten Binnenerzählung über den Baummenschen Pictor im Miyazaki-Anime-Stil.

Der Plot von „Nao in Brown“ zeichnet eine ungewöhnliche Beiläufigkeit aus. Die einzelnen Sequenzen scheinen beliebig austauschbar. Alle Dinge, die passieren, alle Gespräche, die geführt, alle Gedanken, die gedacht werden, führen scheinbar ins Nichts – vielleicht ganz so wie im „echten“ Leben. Ihr Wert und ihre Bedeutung stellt sich erst im Nachhinein heraus; der innere Zusammenhang der einzelnen Sequenzen muss durch die Imaginationskraft des Leser geschaffen werden und fügt sich erst im Rückblick zu einem großen Ganzen.

Dieser Eindruck wird durch den zeichnerische Stil Dillons verstärkt. Es lässt sich mit Händen greifen, dass Dillon viele Jahre beim Fernsehen als Storyboardzeichner gearbeitet hat. Obwohl die Zeichnungen schnell, geradezu skizzenhaft wirken, sind seine Bilder äußerst ambitioniert komponiert, was durch die zarten Kolorierungen mit Aquarellfarben noch unterstützt wird. Die gewählten Bildausschnitte zeugen von einem unruhig umher schweifendem Blick – ähnlich einem Kamera-Eye, das unentwegt Details und Nebensächlichkeiten einfängt, welche erst später an Gewicht gewinnen. Überhaupt wirkt der Comic ungemein filmisch. Die Seitenlayouts sind vielfältig und abwechslungsreich. Auch auf den dritten Blick lassen sich noch Kniffe in der Komposition der Metapanels entdecken. So z.B. zahlreiche Bildzitate aus der Film- und Kunstgeschichte. Dillon beherrscht sein bildnerisches Handwerk - und hier darf man diesen überstrapazierten Superlativ durchaus anwenden – wahrlich meisterhaft. Der ähnlich elegante Strich eines Alex Raymond oder Jim Steranko aus den Super-Helden-Serien Flash Gordon und Nick Fury bilden bei Comic-Kennern ganz natürliche Referenzpunkte für seine Arbeit.

Weitere comic-historische Anleihen für Dillons „Das Nao in Brown“ dürften die in England vornehmlich während der 70er und 80er sehr populäre Girl-Comics sein, deren Artwork von spanisch-mexikanischen Künstlern wie Purita Campos, Rodrigo Rodriges Comos oder den Brüdern Hernandez angefertigt wurden. Die eingelagerte Binnenerzählung um den kleinen Baumjungen Pictor ist eindeutig durch die berühmten Animes Hayao Miyazakis inspiriert.

Schade nur, dass Dillon in seinem ersten eigenen Autorencomic dieses hohe Niveau auf inhaltlicher Ebene nicht ganz halten kann. Der ambitionierte Versuch einer Verzahnung komplexer Themen wie Psychopathologie, Philosophie/Religion und subtiler Beziehungsanamnese gelingt nur im Ansatz. Wollte man Comic-Klassiker ähnlicher Sujets - wie zum Beispiel David B.s „Die heilige Krankheit“, der Epilepsie und Alternativmedizin thematisiert - zum Vergleich heranziehen, so bleibt Dillon auf inhaltlicher Ebene zurück. Denn während es der Darstellung von Naos „Pathologie“ an Tiefe mangelt und die Bedeutung des Buddhismus für diese Geschichte doch recht konstruiert wirkt – kippt die Liebesgeschichte zum Ende hin doch ins Erwartbare. Insgesamt wirkt „Das Nao in Brown“ in seiner inhaltlichen Skizzenhaftigkeit tatsächlich „nur“ wie eine Rohfassung, ein bloßes Storyboard, in welchem noch nicht jedes Detail ausgearbeitet ist – und das im nächsten Produktionsschritt an Kameramann und Regisseur übergeben werden müsste. Einhundert Seiten mehr hätten dem Comic sicher gut getan, um den einen oder anderen Handlungsstrang konsequenter an ein Ende zu führen und einzelne Motive stimmiger auszubauen. Da die Graphic Novel jedoch bereits bei Egmont veröffentlicht ist, muss angenommen werden, dass die ideelle Vollendung in die Hand des Lesers gegeben ist.

Nichtsdestotrotz ist Dillons Debüt mehr als gelungen - vielleicht gerade durch seine gefühlte Unabgeschlossenheit. Dass der Autor für sein Buch beim Comicfestival von Angouleme den Spezialpreis der Jury und zudem noch den British Comic Award gewonnen hat, beweist es. Auch wenn es ihn persönlich überraschte. Denn er habe „nie versucht, viele Menschen zu erreichen“, sagt Dillon in einem Interview. Er habe das Buch eigentlich nur für eine einzige Person gemacht: seine Frau, das Alter Ego Naos.

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Diese Rezension wurde verfasst von OWA.
Veröffentlicht am 01.01.2010