Das Gänsespiel

Autor*in
Wertheim, Anne-Ruth
ISBN
978-3-907277-16-4
Übersetzer*in
Ostermann, Ingrid
Ori. Sprache
Niederländisch
Illustrator*in
Wertheim, Anne-Ruth, Marijke, Hugo, Hetty
Seitenanzahl
48
Verlag
Baobab Books
Gattung
BiografieBuch (gebunden)
Ort
Basel
Jahr
2023
Lesealter
12-13 Jahre14-15 Jahre16-17 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Büchereididaktisches MaterialKlassenlektüre
Preis
22,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Mit ihrem Handeln, unerwünschte Menschen aufgrund von Hautfarbe, politischer Überzeugung oder Religion zu inhaftieren, zu Zwangsarbeit zu verpflichten oder zu ermorden, waren die deutschen Nationalsozialisten Vorbild. Etwa für die japanischen Besatzer, die 1942 das damalige Niederländisch-Indien (heute Indonesien) überfielen, die Niederländer entmachteten und in Internierungslagern hielten. Anne-Ruth Wertheim legt mit „Das Gänsespiel“ ein biografisches, zeitgeschichtliches, dokumentarisch wichtiges, äußerst lesenswertes Buch vor.

Beurteilungstext

Nein, ein Bilderbuch liegt mit „Das Gänsespiel – Meine Kinderjahre im Internierungslager auf Java“ nicht vor. Vielmehr handelt es sich um die Erinnerungen von Anne-Ruth Wertheim, 1934 im damaligen Niederländisch-Indien – heute Indonesien – geboren. 1942 erreichen die Japaner im Zuge des Pazifikkriegs den inselreichen Staat. Die bisherigen Machthaber, die Niederländer, werden von den japanischen Besatzern ausgeschaltet und die niederländische Bevölkerung in Internierungslager gesteckt. 1943 erreicht diese Praxis die auf Java lebende Familie Wertheim; Anne-Ruth ist acht Jahre alt, als sie der Idylle ihres Elternhauses entrissen wird.
„Ich habe die Ereignisse so aufgeschrieben, wie sie sich zugetragen haben und wie sie sich für mich angefühlt haben.“ Westheim schreibt mit dem erinnerten Blick einer Acht-, Neun- und Zehnjährigen. Sie beschreibt Gefühle von Unfreiheit und ständiger Bewachung, schildert Hunger, Armut, Mangel an Hygiene und Bildungsmöglichkeiten, beschreibt auch Angst vor den japanischen Besatzern. Gleichzeitig zeugen ihre Erinnerungen von Geborgenheit, von Spiel, Spaß, Abenteuer und Gemeinschaft. Dass auch das Schöne, Kindgerechte unter diesen Umständen Raum erhielt, verdankten Wertheim und ihre Geschwister in erster Linie ihrer kreativen, beschützenden Mutter Hetty. Sie, die zeichnerisch Begabte, bastelte aus einem alten Stück Karton das heißgeliebte „Gänsespiel“ nach, ein Würfelspiel, das die Kinder in ihrem Zuhause zurücklassen mussten. Hetty regte ihre Kinder an, das Lagerleben zu zeichnen – zum Glück hatte sie daran gedacht, einen Stapel Papier und Buntstifte einzupacken. Es ist beeindruckend, mit offenbar welch zugewandter und kraftvoller Art die Mutter, die jahrelang nicht wusste, ob ihr in einem anderen Lager internierter Mann überhaupt noch am Leben war, ihre drei Kinder durch die schwere Zeit der vollkommenen Unsicherheit und des Mangels führte. Dort, wo sich rund 85 Menschen einen Saal teilten und Mutter und Kinder eine einzige Holzpritsche hatten, gelang es Hetty, auf den vier Quadratmetern ein Zuhause zu schaffen. „Wenn wir auf die Pritsche krabbelten – in unser ‚Häuschen‘ -, machten wir ein Geräusch, als ob wir die Tür abschließen würden: 'Klick-klack'. Dann fühlten wir uns zu Hause“.
Dass Hetty Wertheim für sich und ihre Kinder Entscheidungen fällen musste, deren Konsequenzen sie nicht absehen konnte, wird insbesondere deutlich, als die japanische Lagerkommandantur im September 1944 nach dem Vorbild der deutschen Nazis jüdische Internierte von nicht-jüdischen Internierten trennt. Vater Wertheim ist jüdischer Abstammung, Mutter Hetty nicht, die drei Kinder sind somit Halbjuden. Unvorstellbar, welche Qualen Mutter Wertheim mit sich selbst austragen musste. Schließlich erklärt sie sich als jüdisch und wird gemeinsam mit Anne-Ruth, Marijke und Hugo ins jüdische Lager geschickt. Wenigstens zusammen …
Die Kinderzeichnungen, die die Autorin als „Zeichnungen unseres Lebens“ bezeichnet, bebildern im Buch das Erzählte. Die detailreichen Buntstiftzeichnungen auf Seiten nicht größer als DIN A7 haben berührende Wirkung. Ihre Vielfarbigkeit steht in einem seltsamen Kontrast zu dem, was Anne-Ruth Wertheim berichtet. Der Lageralltag wird in all seinen furchtbaren Facetten und Routinen aus Kinderperspektive dargestellt: die Essensausgabe, die nie mehr als Reis und eine wässrige Brühe bereithielt – und manchmal auch gar nichts. Das gemeinsame Spiel der Kinder zwischen den Baracken, der zweimal tägliche angeordnete Appell, die Ankunft und Registrierung im zweiten Lager, die menschenunwürdigen sanitären Anlagen, die keinerlei Privatheit erlaubten, die Waschküche, in der schon die Kleinsten ihre Kleider wuschen und zum Trocknen auf Holzgestelle in die Sonne hängten. Es ist schwer, sich als Leser der Ausweglosigkeit der Lebenssituation der kleinen Anne-Ruth zu entziehen. Wenn sie erzählt, wie sie sich manchmal „zwischen den hölzernen Wäschegestellen auf den Boden“ legte und „in den blauen Himmel über mir“ schaute, krampft sich das Herz zusammen. Denn das, was dem kleinen Mädchen verwehrt wird, ist wertvoller als (fast) alles andere: Freiheit.
Die Lesealter-Empfehlung des Verlags lautet „ab 9“. Ich rate, dies kritisch abzuwägen. Auch wenn Werke wie „Damals war es Friedrich“ bereits in einigen 4. Klassen der Grundschulen gelesen werden – ohne Vorwissen bezüglich a) kolonialen Machtstrebens sowie b) der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland und c) des Holocausts ist „Das Gänsespiel“ aus meiner Sicht eine Überforderung. Es braucht Vorwissen, um den Umgang der Japaner mit den ehemaligen niederländischen Kolonialherren im befreiten Indonesien 1943 einzuordnen und zu verstehen.

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Diese Rezension wurde verfasst von Kerstin Hosie; Landesstelle: Hamburg.
Veröffentlicht am 04.03.2024