Das achte Leben (für Brilka)

Autor*in
Haratischwili, Nino
ISBN
978-3-627-00208-4
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
1280
Verlag
Frankfurter Verlagsanstalt
Gattung
Erzählung/Roman
Ort
Frankfurt/M
Jahr
2014
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Bücherei
Preis
34,00 €
Bewertung
sehr empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Niza, geboren 1973 in Georgien, erzählt ihrer zwölfjährigen Nichte Brilka die hundertjährige Geschichte ihrer Familie Es entwickelt sich eine spannende und konfliktreiche Familiensaga der Familie Jascha über sechs Generationen .Niza widmet Brilka das achte Leben, in dem sie es besser machen soll als ihre Vorfahren.
“Durchbrich diese Geschichte und lass sie hinter dir”, ist das Vermächtnis an ihre Nichte. Damit ist auch der Bezug zum Titel des Romans gegeben.

Beurteilungstext

Beim Lesen dieses 1280 Seiten langen Familienepos war ich manchmal erschüttert, dann wieder verärgert, ab und zu verzweifelt, häufig zum Widerspruch angeregt und vieles mehr, - aber immer gefesselt von dem, was die Autorin Nino Haratischwili zu erzählen hatte. Bevor ich vorschnell zu einer Bewertung des Romans kommen könnte, habe ich nach der Lektüre noch einmal den umfangreichen Prolog ( 33 Seiten) rückschauend gelesen. Das ist auch meine erste Leseempfehlung für dieses Buch, das von einigen Kritikern auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse als Buch des Jahres bezeichnet wurde.
Als Erzählerin fungiert Niza ,die Urenkelin von Stasia. Ihrer Urgroßmutter hat sie das erste der 8 Bücher des Romans gewidmet . Es folgen sechs weitere Bücher , die jeweils die Protagonisten der Familie Jaschi im 20.Jahrhundert und zu Beginn des 21.Jahrhunderts begleiten. Die erste Seite von dem 8.Buch ist noch leer . Es soll von der zwölfjährigen Brilka geschrieben werden, der Niza die Familiengeschichte der Jaschi-Sippe erzählt. Niza hat die Chance, es besser zu machen als ihre Vorfahren.” Durchlebe alle Kriege, passiere alle Grenzen...Sei alles, was wir waren und nicht waren. Sei ein Leutnant, eine Seiltänzerin, eine Matrose, eine Schauspielerin, ein Filmemacher, eine Pianistin, eine Mutter, eine Krankenschwester, eine Schriftstellerin, sei rot und weiß oder blau, sei Chaos und Himmel und sei sie und ich und sei all dies nicht, tanze vor allem unzählige Pas de deux.Ich habe dir alle Worte aufgeschrieben, die ich besaß” (S.1274)
Zwei Phänomene begleiten alle sieben Bücher des Romans: das Geheimrezept für die Heiße Schokolade des Ururgroßvaters (S.49) und die Geschichte eines Teppichs (S.29).
Der Genuss des Schokolade glich für alle einer “geistigen Ekstase”. In Konfliktsituationen genossen ,“vergaß” man “die Welt um sich herum...Alles war, wie es sein sollte, sobald man diese Schokolade kostete.” Den alten Teppich hatte Stasia auf dem Dachboden des Grünen Hauses, ihrem Elternhaus , entdeckt. Sie will den Teppich restaurieren lassen, weil die einzelnen Fäden zusammen ein Muster ergeben. Für Stasia sind Teppiche aus Geschichten gewebt.Diese Erkenntnis der Urgroßmutter sieht Niza als Auftrag, die Geschichten der Familie für die Nachgeborenen aufzuschreiben. Und so entsteht für uns Leser die verzweigte und verwinkelte Geschichte der Jaschi-Sippe , die immer begleitet wird von den Zeitläufen des 20.Jahrhunderts , so dem Ende des Zarenreiches, der Oktoberrevolution und der stalinistischen Gewaltherrschaft , der Geschichte Georgiens in diesen wechselhaften Zeiten und der Fall der Berliner Mauer und dessen Auswirkungen für Europa.
Es ist bedrückend, dass die Protagonisten des Romans trotz ganz unterschiedlicher Lebensläufe scheitern.
Stasia erfährt in ihrem langen Leben viel Leid und viele Enttäuschungen, bevor sie schließlich in ihr Elternhaus zurückkommt und in ihrer Phantasiewelt schlussendlich ihre Erfüllung findet. Stasias Schwester Christine (2.Buch) ist eine bewundernswert hübsche und elegante Frau. Das führt dazu, dass der Vorgesetzte ihres Mannes ihr Geliebter wird. Im Roman wird er Kleiner Großer Mann genannt , gemeint ist der gefürchtete sowjetische Geheimdienstchef Beria. In seiner Verzweiflung sieht der betrogene Ehemann als Rache für den Ehebruch nur die Verätzung von Christines Gesicht . Dadurch wurde sie für den Kleinen Großen Mann als Geliebte unattraktiv. Der Ehemann von Christine nahm sich das Leben und auch seine Frau findet schließlich einen gewaltsamen Tod. Auch ihre beiden Kinder Kostja und Kitty scheitern tragisch an den gesellschaftlichen Verhältnissen . Kostja steigt in der Nomenklatura bis zu einem gefürchteten Geheimdienstler auf. Mit den postsowjetischen Umbrüchen in Russland und Georgien kommt der uneinsichtige Stalinist nicht zurecht. Vereinsamt stirbt es aufgrund seiner Alkoholkrankheit. Kitty wird von einem georgischen Nationalisten schwanger. Als sie seinen Aufenthaltsort nicht verraten kann, wird ihr der Fötus in einem Klassenraum im Beisein einer Frau vom Geheimdienst herausoperiert.
Diese Szene wird in allen Details in dem Buch beschrieben. Es bleibt für mich die Frage, ob das für die Aussage zu den Praktiken des sowjetischen Geheimdienstes den Lesern zugemutet werden muss. Später gelingt es Kitty mit Hilfe eines Freundes ihres Bruders nach London zu emigrieren. Sie wird zu einer in Ost und West gefeierten Künstlerin. Trotzdem findet sie nicht ihr Lebensglück, auch nicht in einer lesbischen Dreierbeziehung mit zwei sehr ambivalenten Frauen. Als schließlich ihre letzte Liebesbeziehung zu dem Freund ihres Bruders, auch einem Agenten in sowjetischen Diensten, scheitert , nimmt sie sich das Leben.
Die einzelnen Bücher erzählen keine in sich abgeschlossenen Geschichten , sondern sie sind wie das poetisch Bild von Stasias Teppich miteinander verwoben. Auch die Zwischenüberschriften in den einzelnen Büchern in Form von Zitaten ganz unterschiedlicher Persönlichkeiten, aber auch von Plakaten , ersparen dem Leser nicht ein sehr genaues Lesen der vielen Seiten des Romans. Hinzu kommt, dass die historischen Zeitabläufe ausführlich von der Autorin kommentiert werden und die Gefühls- und Gedankenwelt der Protagonisten sprachkünstlerisch sehr eindrucksvoll eingefügt werden.
Am Ende des umfangreichen Romans bleibt der Leser ein wenig hilflos zurück. Wie soll es nun weitergehen mit der Lebensgeschichte von Brilka? Wird sie ein Gesellschaftssystem finden, in dem sich ihre Persönlichkeit in einem schließlich glücklichen Leben voll entfalten kann ? Diese Frage stellt sich wohl auch in besonderem Maße jugendlichen Lesern des Buches. Auch deshalb ist es besonders empfehlenswert.

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Diese Rezension wurde verfasst von Schl.
Veröffentlicht am 01.01.2010