Crossing the Lines - Uns gehört die Nacht"

Autor*in
Theisen, Manfred
ISBN
978-3-7432-1213-8
Übersetzer*in
Ori. Sprache
Illustrator*in
Seitenanzahl
238
Verlag
Loewe
Gattung
Erzählung/RomanTaschenbuch
Ort
Bindlach
Jahr
2022
Lesealter
16-17 Jahreab 18 Jahre
Einsatzmöglichkeiten
Preis
8,95 €
Bewertung
eingeschränkt empfehlenswert

Schlagwörter

Teaser

Vier Jugendliche auf der Suche nach irgendeiner Ablenkung, einem Kick, einer Erfüllung in der Zeit des großen Corona-Lockdowns. Sie rasen mit E-Scootern durch Köln, liefern sich Verfolgungsjagden mit der Polizei, brechen ein und vor allem halten sie sich „natürlich“ nicht an das Kontaktverbot. Ein rätselhafter Junge, der zu ihnen stößt, sorgt für Verwirrung und erhöht die Intensität an krimineller Energie. Manfred Theisens Versuch einer Zustandsbeschreibung des Lebens Heranwachsender während einer so noch nie gekannten gesellschaftlichen Krise.

Beurteilungstext

Lilu und Leon, Chiara und Alexander treffen sich fast jede Nacht – um auszubrechen aus Lockdown, Kontaktbeschränkungen und Online-Schulunterricht sowie Elternhäusern, die tatsächlich oder scheinbar kein Verständnis für sie aufbringen. Sie sind 16, 17; sie wollen etwas erleben; sich verlieben und Pläne schmieden; sie wollen nicht isoliert vor einem Computer sitzen und langweilige Simulationen von Unterricht erleben. Nach einem illegalen Rennen mit E-Scootern durch die Kölner City werden Lilu und Leon verhaftet. Im Gefängnis lernen sie Summer kennen, einen undurchschaubaren Jungen, der sie mit seinen eigenartigen Äußerungen provoziert. Lilu verliebt sich heftig in ihn. Leon, der sie selbst seit Jahren liebt und verehrt, muss ohnmächtig anschauen, wie ihm nur die Rolle des „besten Kumpels“ bleibt; er betrinkt sich das erste Mal in seinem Leben und schaut verbittert zu, wie Lilu Summer immer mehr verfällt. Die fünf und weitere Jugendliche eskalieren ihre nächtlichen Eskapaden, u.a. brechen Sie in den Zoo ein und entkommen nur mit Mühe den Bediensteten. Nach einem Einbruch in ein Schiff der Ausflugsflotte auf dem Rhein übernachten sie in einem aufgebrochenen VW-Bulli. Alle scheinen sich mehr und mehr von einem „geregelten Leben“ zu entfernen; außer Chiara nimmt keiner mehr ernsthaft am digitalen Unterricht teil. Die Handlung kulminiert in einem Autorennen, dass sich Leon und Summer liefern – nicht zuletzt, um ihren „Battle“ um Lilus Zuneigung öffentlichkeitswirksam auszutragen. Das von Summer gesteuerte Auto rast in eine Wand – der Fahrer aber ist nach dem Unfall unauffindbar. Lilu und Leon kommen schließlich doch zusammen und generell scheint das Leben in normalere Bahnen zurückzufinden.
Manfred Theisen hat sich einen Namen gemacht als Autor von Jugendbüchern, die gesellschaftlich relevante Themen behandeln; vor allem Netzsicherheit, Cyber-Mobbing und ähnliche Gebiete kommen bei ihm zur Sprache. Mit „Crossing the lines“ unternimmt er den Versuch, den unfassbaren Einbruch der Covid-Pandemie in die Lebensrealität junger Menschen zu verarbeiten. Leider gelingt ihm das nicht in überzeugender Weise. Der Roman schildert chronologisch etwa zwei Wochen im Jahr 2021, ergänzt durch einen kurzen Ausblick. Über die Lebensumstände der vier bzw. fünf Protagonisten erfährt man wenig, vieles bleibt angedeutet und vage. Seltsam mutet schon an, dass die vier Jugendlichen offensichtlich mehr oder weniger separate Einheiten in ihren Elternhäusern zu bewohnen scheinen, die wiederum unmittelbar aneinander grenzen. Nur Lilus Familie wird ein wenig detaillierter dargestellt. Die Reaktionen ihrer Eltern auf ihre nächtlichen – und durchaus kriminellen – Aktivitäten sowie auf ihr permanentes Schwänzen der Onlineschule wirken allerdings kaum nachvollziehbar: Nach einem kurzen und heftigen Donnerwetter lassen sie ihre minderjährige Tochter gewähren und nehmen wenig Einfluss auf sie. Bei ihren Freunden verhält es sich offensichtlich ähnlich. Leons Familie könnte einen interessanten Kontrapunkt zum Ausbruchsverhalten der kleinen Gang bilden – seine Mutter ist verstorben und der Vater stößt an seine Grenzen beim Versuch, für Leon und seinen behinderten Bruder Henry zu sorgen. Aber auch die kurzen Episoden zwischen Leon und Henry werden nur angedeutet und nicht ausgearbeitet. Alle Personen, die mehr oder minder den Staat repräsentieren, erhalten keine individuellen Züge. Sie werden pauschal als das „System“ dargestellt, als Kontrapunkt zu jugendlichem Auf- und Ausbruch – vor allem Polizisten und Lehrkräfte. Selbst das eigentliche Kernthema, also die Pandemie, wird immer nur angerissen, nicht wirklich zwischen den jungen Leuten diskutiert. Absurd wird die Story mit der Figur von Summer. Anfangs kann man die Faszination Lilus für den jungen Mann mit dem asiatischen Aussehen noch nachvollziehen – er tritt provokant und selbstbewusst auf und scheint seinen Weg gefunden zu haben, dazu noch ist er gutaussehend und durchtrainiert. Dass er offenbar seine Identität und seinen Lebensumstände verschleiert, ist auch als spannungsstiftendes Element akzeptabel. Dass aber am Ende offenkundig wird, dass er wohl gar nicht „real“ war, sondern eine Art Geistwesen, vielleicht eine unbewusst geschaffene Projektionsfläche der Träume der anderen, macht ratlos. Bei der Darstellung von Emotionen ist Leons Eifersucht und seine Frustration angesichts der sich anbahnenden Beziehung zwischen Lilu und Summer gut herausgearbeitet. Was sie freilich ihrem langjährigen Freund gegenüber empfindet, bleibt ebenso rätselhaft wie die Hintergründe für die Partnerschaft von Chiara und Alexander. Anzumerken sind auch viele stilistische Schnitzer. Manche jugendsprachlichen Elemente mögen authentisch sein. Viele Metapher und Bilder misslingen jedoch: „ … dem Mond entgegen, der wie ein abgeknipster Zehennagel am Himmel hing.“ (S. 66); „Sie strahlte, als hätte sie Plutonium verschluckt.“ (S. 198). Gleiches lässt sich von manchen Dialogpassagen sagen: „Es ist echt schon früh am Morgen, ich kann bis hierher die Alkfahne riechen und mein Sohn ist wieder on the road.“ (S. 186). Möglicherweise hat der Autor versucht, Orientierungslosigkeit und „Treibenlassen“ vor dem Hintergrund einer lebensfeindlichen Umgebung besonders authentisch abzubilden – überzeugend wirkt es nicht. Leider kann das Buch nur mit deutlichen Einschränkungen empfohlen werden.

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Diese Rezension wurde verfasst von RPKJ; Landesstelle: Rheinland-Pfalz.
Veröffentlicht am 19.12.2022